Es muss kein Wein sein
Balsamico. Auch beim Balsamessig spielen Jahrgänge eine immer wichtigere Rolle
Was lange währt, wird nicht nur gut, sondern oft noch besser. Das trifft nicht nur auf hochkarätige (Rot-)Weine, Whiskys oder Rum zu, sondern nun auch auf manche Essige. Was sie eint: eine jahrelange Reifezeit. Es ist kein Wunder, dass „Vintage“, also der Blick auf den Jahrgang, auch bei Essigen ein immer größeres Thema wird.
Wie Kostbarkeiten werden unter Kennern etwa edle Flaschen lange gereiften Aceto Balsamico tradizionale mit der geschützten Ursprungsangabe der Region Modena gehandelt – Essige, die auch ohne Vintage-Siegel schon zu den edelsten weltweit zählen. Preise von 50 Euro und mehr für 100 Milliliter sind keine Seltenheit. Die Produzenten hüten einige wenige alte Balsamico-Fässer (samt Inhalt) wie Schätze, sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, die Essige mit Sorgfalt gepflegt.
Aromen verändern den Essig
Es ist unter anderem das Aroma der Früchte, das sich mit der Zeit verändert. Ebenso wirkt sich der Lagerungsprozess in Fässern aus verschiedenen Hölzern auf den Geschmack aus. Das Ergebnis: Lang gereifter Balsamico changiert zwischen fruchtiger Süße und der Säure des Essigs. Mit den Geschmacksnuancen aus Hölzern wie Eiche, Akazie oder Kastanie entsteht ein aromatisches, hoch komplexes Würzmittel, das etwa kurz gebratenes Fleisch, Saucen oder auch Vanilleeis eine besondere Note verleiht.
Dass diese Effekte nicht nur beim traditionellen Balsamico zu finden sind, weiß auch Alois Gölles. Im Keller seines Betriebs nahe der steirischen Riegersburg sind die ältesten Fässer seit 1984 eingelagert. Damals versuchte sich der Obstbauer erstmals als Essigbrauer. Aceto Balsamico hatte er kurz zuvor in Modena kennengelernt und war sofort von der mild-süßlichen Säure fasziniert. So sehr, dass er selbst zu experimentieren begann – allerdings nicht mit Traubenmost, sondern mit heimischen Äpfeln. Beim Vergärungsprozess lehnte er sich aber sehr an die Balsamico-Herstellung an und lagerte seinen Apfel-Balsamessig in Eichenfässern. Das sei eine Herausforderung gewesen, erinnert sich Gölles. „Essig war damals wirklich ein anderes Thema als heute, Aceto Balsamico kannten nur wenige.“
Zeitreise im Keller
Alte Fässer zum 40-jährigen Jubiläum zu öffnen, ist auch daher so etwas wie eine kleine Zeitreise, die Einblicke in die jahrelange Entwicklungsarbeit geben. „Am Anfang haben wir von Jahr zu Jahr probiert.“Rückmeldungen von Köchen und Konsumenten hätten immer wieder aufs Neue eine Richtschnur gegeben. „Manche bevorzugten mehr Frucht, andere wollten eine malzige Note.“Doch egal, was man bevorzugt: „Die Aromen der zerkochten Früchte sind wesentlicher Bestandteil eines Balsamessigs. Es ist immer ein Austarieren, etwa wie lange man die Früchte einkocht.“
Was damit gemeint ist, zeigt der Jahrgangsvergleich. Der Apfel-Balsamessig aus 1984 zeigt eine deutlich fruchtige Apfelnote, im 1987er ist diese hingegen weniger dominant. „Er ist feiner, zarter, ja, eleganter geraten“, befindet Gölles.
1988 schmeckt er wiederum runder und dichter als seine Vorgänger, die Fruchtaromen sind weiter reduziert, eine malzige Note wird deutlicher. Diese ist im 1991er-Jahrgang klar zu erschmecken, sie entsteht durch eine längere Einkochzeit des Apfelmosts. Generell zeigen sich die Balsamessige der 1990er-Jahre eher konzentrierter und dichter in der Konsistenz.
Das erkennt auch ein bewusst schmeckender Laie. Bei den späteren Jahrgängen werde es schwieriger, sagt Gölles. „Die Unterschiede zwischen den einzelnen Jahrgängen wurden geringer. Außerdem gleichen sich im Laufe der Jahre die Aromanoten an.“Jahrgänge wie etwa der 2014er sind für ihn „die Essenz aus den Erfahrungen der 1980er- und 1990er-Jahre“. Am Gaumen heißt das: Frucht und Säure harmonieren perfekt und ergeben ein ausgewogenes Zusammenspiel.
Dickflüssige Creme
Heute bleiben die Apfel-Balsamessige vor der Flaschenabfüllung normalerweise acht bis zehn Jahre lang in Fässern. Außer jene aus der XA-Serie. Das steht für „extra aromatisch“, diese Essige reifen mindestens 20 Jahre. Die lange Lagerung bekommt aber nicht jeder Apfel-Balsamessig-Charge, betont Gölles. Die, die dafür geeignet sind, zeigen sich nach so langer Zeit eher als dickflüssige Creme denn als Flüssigkeit. Die Süße überwiegt die Essigsäure bei weitem.
Dass sie nicht als klassische Würze über Salat mit Öl geeignet sind, versteht sich von selbst. In „homöopathischen Dosen“entfalten sie ihre Vorzüge am besten, etwa in Form von ein paar Tropfen über Erdbeeren mit Schlagobers. Man kann aber auch, wie manche italienische Köche, großzügiger sein und eine Portion Braterdäpfel mit einem ordentlichen Schuss Vintage-Balsamessig verfeinern. Schaden wird’s dem Genuss nicht.