100 Jahre afroamerikanische Modernität
Eine Ausstellung in New York zeigt die kulturelle Blüte der 1920er – und ermöglicht dabei auch neue Blicke auf Picasso, Matisse und die Gegenwart
Wer die Stufen zum Metropolitan Museum in New York hinaufsteigt, ist im kulturellen Establishment der USA angekommen. Das gilt nicht nur dann, wenn die „Met Gala“die Stars aus dem Showund Modebusiness in exklusiven Roben an dieser Stelle begrüßt. In dem Museum, das
Meisterwerken von der Antike bis zur Moderne Platz bietet, erfährt gerade auch die Eleganz der „Harlem Renaissance“neue Wertschätzung.
Grund ist eine Ausstellung (bis 28. 7.), die nicht nur innerhalb der US-Kunstwelt als überfällig und wichtig wahrgenommen wird: Denn die Ausbildung einer modernen Sprache innerhalb der afrikanischen Diaspora, die sich vor rund 100 Jahren ihren Weg bahnte, strahlte auch auf das zurück, was wir als westliche Moderne kennen. Und so erfährt auch die Kunst von Picasso und Matisse oder jene des Expressionismus eine Neudeutung.
Die Harlem Renaissance ist in Europa kein sehr vertrauter Begriff: Er bezeichnet jene kulturelle Blüte, die sich im frühen 20. Jahrhundert entwickelte, als Afroamerikaner in Folge der Industrialisierung zunehmend vom Süden der USA in die Metropolen des Nordens zogen.
Bei aller anhaltenden Diskriminierung ermöglichte die dortige Wirtschaft die Heranbildung einer schwarzen Mittelklasse und einer schwarzen intellektuellen Elite.
Intellektuelle Elite
Der Soziologe W.E.B. Du Bois war 1895 der erste Afroamerikaner, der einen Doktortitel an der Harvard-Universität erlangte. Ihm folgte der Philosoph Alain Locke, der 1918 als erster Schwarzer ein „Rhodes Scholarship“, das renommierteste Stipendium der USA, zugesprochen bekam.
Du Bois und Locke gelten als die „Väter“der Harlem Renaissance: Mit ihren Theorien und Manifesten forderten sie die Ausbildung einer selbstbewussten, unabhängigen und modernen afroamerikanischen Kultur. Doch wie diese genau aussehen sollte, war Gegenstand hitziger Debatten: Wollte man sich an europäischen Vorbildern orientieren oder stärker die Formensprache afrikanischer Ahnen berücksichtigen? Oder gar das Alte Ägypten statt der griechischen Antike wieder aufleben lassen? Welchen Platz hatten der Alltag, die Folklore und die ständig erlebte Diskriminierung in der Kunst? Inwieweit sollte diese dem Protest gegen gesellschaftliche Zustände dienen?
Die Ausstellung und der Katalog versammeln hier zahlreiche Publikationen, Gemälde, Zeichnungen und Fotografien, die diese Auseinandersetzungen lebendig werden lassen – viele der Fragen wirken heute ungebrochen aktuell.
Aus der Perspektive eines europäischen Besuchers ist es erhellend zu sehen, dass die Auseinandersetzungen nicht auf Amerika beschränkt blieben: Viele Protagonisten der Bewegung, die Kunst und Literatur ebenso umfasste wie Musik und Tanz, verbrachten Zeit in Europa, setzten sich mit dortigen Strömungen auseinander – und beeinflussten Künstler vor Ort.
So kam Archibald Motley, der zeitweise in Paris lebte, mit der „Neuen Sachlichkeit“und den satirischen Collagen des Berliners George Grosz in Kontakt. Dieser war seinerseits von dem Siegeszug des Jazz in den „wilden 1920ern“beeindruckt. Ebenso ein Jazzfan war Henri Matisse, der mit Gemälden in der Schau vertreten ist, die auf Ausflüge des Franzosen in New Yorker Jazzclubs zurückgehen.
Kein „Primitivismus“
Die Reduktion der Formen, die sich Matisse, Picasso und andere ab 1907 von afrikanischen Skulpturen abgeschaut hatten, fand als „Primitivismus“Eingang in die Kunstgeschichtsbücher und wurde später als kulturelle Aneignung kritisiert. Alain Locke, der Philosoph der Harlem Renaissance, begrüßte aber durchaus, dass sich europäische Künstler für die Kultur seiner Ahnen interessierten, und ermunterte schwarze Künstler, sich ebenso in diesem Fundus zu bedienen: „Die Kunst muss jene Schönheit entdecken und hervorbringen, die durch Vorurteile und Karikaturen überlagert wurde“, schrieb er.
Wie man gegen Ende der Schau erfährt, beriet Locke in den 1930ern bereits amerikanische Museen und kuratierte Ausstellungen afroamerikanischer Künstler. Seine Idee, diese Seite an Seite mit ihren weißen Zeitgenossen zu zeigen, wurde aber als „konzeptuell mangelhaft“abgelehnt.