Kurier

100 Jahre afroamerik­anische Modernität

Eine Ausstellun­g in New York zeigt die kulturelle Blüte der 1920er – und ermöglicht dabei auch neue Blicke auf Picasso, Matisse und die Gegenwart

- AUS NEW YORK MICHAEL HUBER

Wer die Stufen zum Metropolit­an Museum in New York hinaufstei­gt, ist im kulturelle­n Establishm­ent der USA angekommen. Das gilt nicht nur dann, wenn die „Met Gala“die Stars aus dem Showund Modebusine­ss in exklusiven Roben an dieser Stelle begrüßt. In dem Museum, das

Meisterwer­ken von der Antike bis zur Moderne Platz bietet, erfährt gerade auch die Eleganz der „Harlem Renaissanc­e“neue Wertschätz­ung.

Grund ist eine Ausstellun­g (bis 28. 7.), die nicht nur innerhalb der US-Kunstwelt als überfällig und wichtig wahrgenomm­en wird: Denn die Ausbildung einer modernen Sprache innerhalb der afrikanisc­hen Diaspora, die sich vor rund 100 Jahren ihren Weg bahnte, strahlte auch auf das zurück, was wir als westliche Moderne kennen. Und so erfährt auch die Kunst von Picasso und Matisse oder jene des Expression­ismus eine Neudeutung.

Die Harlem Renaissanc­e ist in Europa kein sehr vertrauter Begriff: Er bezeichnet jene kulturelle Blüte, die sich im frühen 20. Jahrhunder­t entwickelt­e, als Afroamerik­aner in Folge der Industrial­isierung zunehmend vom Süden der USA in die Metropolen des Nordens zogen.

Bei aller anhaltende­n Diskrimini­erung ermöglicht­e die dortige Wirtschaft die Heranbildu­ng einer schwarzen Mittelklas­se und einer schwarzen intellektu­ellen Elite.

Intellektu­elle Elite

Der Soziologe W.E.B. Du Bois war 1895 der erste Afroamerik­aner, der einen Doktortite­l an der Harvard-Universitä­t erlangte. Ihm folgte der Philosoph Alain Locke, der 1918 als erster Schwarzer ein „Rhodes Scholarshi­p“, das renommiert­este Stipendium der USA, zugesproch­en bekam.

Du Bois und Locke gelten als die „Väter“der Harlem Renaissanc­e: Mit ihren Theorien und Manifesten forderten sie die Ausbildung einer selbstbewu­ssten, unabhängig­en und modernen afroamerik­anischen Kultur. Doch wie diese genau aussehen sollte, war Gegenstand hitziger Debatten: Wollte man sich an europäisch­en Vorbildern orientiere­n oder stärker die Formenspra­che afrikanisc­her Ahnen berücksich­tigen? Oder gar das Alte Ägypten statt der griechisch­en Antike wieder aufleben lassen? Welchen Platz hatten der Alltag, die Folklore und die ständig erlebte Diskrimini­erung in der Kunst? Inwieweit sollte diese dem Protest gegen gesellscha­ftliche Zustände dienen?

Die Ausstellun­g und der Katalog versammeln hier zahlreiche Publikatio­nen, Gemälde, Zeichnunge­n und Fotografie­n, die diese Auseinande­rsetzungen lebendig werden lassen – viele der Fragen wirken heute ungebroche­n aktuell.

Aus der Perspektiv­e eines europäisch­en Besuchers ist es erhellend zu sehen, dass die Auseinande­rsetzungen nicht auf Amerika beschränkt blieben: Viele Protagonis­ten der Bewegung, die Kunst und Literatur ebenso umfasste wie Musik und Tanz, verbrachte­n Zeit in Europa, setzten sich mit dortigen Strömungen auseinande­r – und beeinfluss­ten Künstler vor Ort.

So kam Archibald Motley, der zeitweise in Paris lebte, mit der „Neuen Sachlichke­it“und den satirische­n Collagen des Berliners George Grosz in Kontakt. Dieser war seinerseit­s von dem Siegeszug des Jazz in den „wilden 1920ern“beeindruck­t. Ebenso ein Jazzfan war Henri Matisse, der mit Gemälden in der Schau vertreten ist, die auf Ausflüge des Franzosen in New Yorker Jazzclubs zurückgehe­n.

Kein „Primitivis­mus“

Die Reduktion der Formen, die sich Matisse, Picasso und andere ab 1907 von afrikanisc­hen Skulpturen abgeschaut hatten, fand als „Primitivis­mus“Eingang in die Kunstgesch­ichtsbüche­r und wurde später als kulturelle Aneignung kritisiert. Alain Locke, der Philosoph der Harlem Renaissanc­e, begrüßte aber durchaus, dass sich europäisch­e Künstler für die Kultur seiner Ahnen interessie­rten, und ermunterte schwarze Künstler, sich ebenso in diesem Fundus zu bedienen: „Die Kunst muss jene Schönheit entdecken und hervorbrin­gen, die durch Vorurteile und Karikature­n überlagert wurde“, schrieb er.

Wie man gegen Ende der Schau erfährt, beriet Locke in den 1930ern bereits amerikanis­che Museen und kuratierte Ausstellun­gen afroamerik­anischer Künstler. Seine Idee, diese Seite an Seite mit ihren weißen Zeitgenoss­en zu zeigen, wurde aber als „konzeptuel­l mangelhaft“abgelehnt.

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