„Wir sterben einen langsamen Tod“
Penpa Tsering, Präsident der tibetischen Exilregierung, sprach mit dem KURIER über chinesischen „Kolonialismus“, europäische Unterwürfigkeit und eine Tibet-Lösung am Beispiel Südtirols
Als Penpa Tsering in einem Wiener Hotel zum Interview erscheint, entschuldigt er sich für seine Müdigkeit. Es seien anstrengende Tage gewesen. Fünf Länder durchreiste der Präsident der Exilregierung Tibets in zwanzig Tagen; eine Europareise, die ihn von der Schweiz über Frankreich, Italien, nach Deutschland und Österreich geführt hatte. Überall traf er sich mit Parlamentariern, um auf die Unterdrückung seines Volkes aufmerksam zu machen – in Österreich mit Abgeordneten der Grünen, der ÖVP und der Neos, in Frankreich sogar mit Präsident Emmanuel Macron.
Eigentlich galt der Dalai Lama, der oberste Mönch des tibetischen Buddhismus, als weltliches und geistliches Oberhaupt Tibets. Doch als der aktuelle, 14. Dalai Lama, 2011 seine politischen Ämter niederlegte, wurde zusätzlich das Amt des Präsidenten, genannt Sikyong, geschaffen. Vom indischen Dharamsala aus versuchen beide, ihr Volk in der Welt zu vertreten.
Wie aus Orwells 1984 Zuletzt ist es ruhiger geworden um das Leid der Tibeter. Chinas Umgang mit den muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang, die zu Hunderttausenden in Arbeits- und Umerziehungslagern sitzen, mit der Sonderverwaltungszone Hongkong, die über ein neues Sicherheitsgesetz gleichgeschaltet wurde sowie mit der Insel Taiwan, der man mit der Eroberung droht, nimmt seit Jahren mehr Platz in der Öffentlichkeit ein.
„Es ist ja kein Wettkampf um die internationale Aufmerksamkeit“, sagt Tsering. Durch die öffentlichen Auftritte des Dalai Lama sei Tibet eben viele Jahre stärker „sichtbar“gewesen. Heute stünden die Uiguren im Fokus, „doch solange der Täter derselbe ist, haben wir alle dasselbe Ziel.“Eine Erklärung für die verschobene Aufmerksamkeit sei, dass es schlicht mehr Uiguren gibt: Rund sieben Millionen Tibetern weltweit stehen 20 Millionen Uiguren gegenüber, auch die Diaspora ist mit mehreren Millionen deutlich größer als die ca. 140.000 Exil-Tibeter.
„Sie hören aber auch weniger aus Tibet, weil die Situation dort jener in Hongkong oder Xinjiang um Jahrzehnte voraus ist“, sagt Tsering. China habe in Tibet ein System „wie aus George Orwells Roman 1984“etabliert: „Der Staat kontrolliert alles, ist allgegenwärtig.“Der öffentliche Raum, das Internet, selbst Hotels würden ständig überwacht. Das habe zu einem völligen Stillstand der Widerstandsbewegung geführt.
Aufgebracht erklärt Tsering: „Der chinesische Staat weitet seine Kontrolle inzwischen auf unsere Klöster aus, setzt Mönche unter Druck und schickt unsere Kinder in Zwangsinternate, in denen sie nur noch Chinesisch sprechen dürfen. Das ist Kolonialismus, sie greifen die Wurzel unserer tibetischen Identität an!“Doch diese Form der Unterdrückung sei für die Tibeter schwer zu beweisen, weil es nicht um Verhaftungen oder Folter gehe. Tsering sagt deshalb: „Wir sterben einen langsamen Tod.“
Immerhin habe in Europa inzwischen „wirklich jeder“verstanden: Russland ist die unmittelbare Gefahr, China die langfristige Herausforderung. „Das gibt uns Möglichkeiten. Wenn wir Regierungen oder Parlamentarier kontaktieren, sind sie eher bereit, uns zuzuhören.“Trotzdem sagt der Sikyong: „Ihr Europäer seid noch immer dabei, eure Lektionen zu lernen.“
Obwohl in Deutschlands nationaler China-Strategie Peking etwa als „systemischer Rivale“bezeichnet wird, investieren deutsche Großkonzerne weiter in der Volksrepublik. „Da frage ich mich“, so
Tsering, „wenn der Drache euch beißt und ihr trotzdem nicht aufhört, ihn zu füttern, wer ist dann schuld?“
Nach Jahrhunderten in unmittelbarer Nachbarschaft sei für die meisten Tibeter klar: „China respektiert nur Stärke.“Europäische Staaten müssten deshalb für ihre Werte einstehen, statt vor Chinas Reichtum auf die Knie zu fallen. „Denn wenn man sich zu tief verbeugt, ist man irgendwann auf allen vieren“, erklärt der Sikyong ernst: „Und dann wird China dich wie einen Esel behandeln.“
Ende des Kommunismus Irgendwann, das ist das erklärte Ziel der Exilregierung, wolle man eine demokratische, autonome Provinz innerhalb der Volksrepublik China werden. Wie das gehen soll? „Wir haben uns viele Autonomie-Modelle auf der Welt angesehen und Ideen gesammelt“, sagt Tsering. „Südtirol ist ein gutes Beispiel, wo das Volk, aber auch die italienische Regierung zufrieden ist.“
Spielraum für Verhandlungen könnte es aber erst geben, wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen Tibet und der Zentralregierung verschieben würde. Tsering hält das nicht für ausgeschlossen: „Kaum jemand hätte erwartet, dass die Sowjetunion so schnell zerfallen würde.“
In China seien gerade erste Anzeichen eines Niedergangs bemerkbar, was auch an Machthaber Xi Jinping liege: „Er hat einen Staat geschaffen, in dem das Volk ständig überwacht wird, in dem jene belohnt werden, die ihre Mitbürger anschwärzen.“Dasselbe gelte in der Politik, wo im Vorjahr der Außen- und Verteidigungsminister spurlos verschwanden.
„Xi will Kontrolle um jeden Preis, will dafür sorgen, dass die Kommunistische Partei weiter besteht“, meint Tsering. „Doch genau die Stimmung, die er geschaffen hat, könnte zum Niedergang des Kommunismus führen.“