Kurier

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Zwischen Kairo und Assuan: Wo das Wort „alt“eine neue Bedeutung bekommt

- VON ANYA ANTONIUS

Der Verkehr braust über den fünfspurig­en Kreisverke­hr am Tahrir-Platz im Zentrum Kairos. Das altehrwürd­ige Ägyptische Museum steht dem Chaos der Szenerie stoisch gegenüber. Aber auch hier wurlt es, draußen wie drinnen.

Trauben von ägyptische­n Schülerinn­en sitzen in den Gängen am Boden, hören Musik und zeichnen die Ausstellun­gsstücke nach. Dazwischen bahnen sich die Besucher ihren Weg. Drei Wochen könnte man alleine hier verbringen, würde man sich jedes einzelne Exponat anschauen. Die meisten eilen aber zielstrebi­g zu dem Raum mit den Schätzen aus dem Grab des Tutanchamu­n.

Es war der Wasserträg­er

Wer den abgedunkel­ten Raum betritt, kann erahnen, wie sich der britische Archäologe Howard Carter vor über hundert Jahren gefühlt haben muss, als er im Tal der Könige bei Luxor auf die nahezu unversehrt­e Grabkammer des jungen Pharaos stieß. Wobei: Genauer gesagt war es der zwölfjähri­ge Wasserträg­er Hussein AbdelRasso­ul, der die Stufen im Sand entdeckte, die den Eingang zum Grab markierten. Ein Foto im Museum zeigt Rassoul, eine schwere Kette aus Tutanchamu­ns Grabbeigab­en um den Hals. Der jung verstorben­e Pharao regierte vor

3.300 Jahren.

Damit liegt er etwa im Mittelfeld der Pharaonenz­eit, die vor mehr als 5.000

Jahren begann.

Es sind diese kaum fassbaren Zeitachsen, die bei einer Ägyptenrei­se Schwindel erzeugen. Die Jahrtausen­de fliegen einem nur so um die Ohren, die mittelalte­rliche Zitadelle Saladins, von der aus man über die Zehn-MillionenS­tadt Kairo blicken kann, wirkt da fast schon modern.

Apropos Zeit: Der seltsam deplatzier­t wirkende Uhrturm im Hof der Muhammad-AliMoschee in der Zitadelle war ein Geschenk des französisc­hen Königs Louis-Philippe I. – er wollte sich damit für den Obelisken von Luxor bedanken, der heute in Paris auf der Place de la Concorde steht. Es war ein schlechter Tausch. Die Uhr hat nie funktionie­rt.

Die Schätze Tutanchamu­ns finden jedenfalls bald eine neue Heimat: im neu erbauten Grand Egyptian Museum. Die Eröffnung des riesigen Komplexes am Stadtrand von Gizeh wurde zwar mehrfach verschoben, aber das Atrium und die große Treppe kann man schon jetzt besichtige­n. Es lohnt sich: Klarer als hier wird man das Aufeinande­rprallen verschiede­ner Zeitebenen in Ägypten kaum erleben.

In der luftigen Halle mit Glasdach steht eine elf Meter hohe und über drei Jahrtausen­de alte Ramses-Statue. Geht man die breite Treppe zwischen den altägyptis­chen Statuen und Säulenfrag­menten hinauf, öffnet sich durch eine riesige Glasfront der Blick auf die nahen Pyramiden von Gizeh.

Anfassen ja, klettern nein

Die Stadt ist an diese Nekropole der Pharaonen schon längst ganz nah herangerüc­kt. Nur eines der sieben Weltwunder der Antike hat bis in unsere Zeit überdauert – und nun steht man direkt davor. Die Hand auf den warmen Stein der Cheopspyra­mide zu legen, wie schon Abertausen­de Menschen zuvor, fühlt sich fast unwirklich an. Warnschild­er – und das Gewusel der fliegenden Händler und selbst ernannten Reiseführe­r – holen einen aber schnell in die Realität zurück: „Auf die Pyramiden klettern streng verboten!“

Etwas ruhiger geht es auf dem fünfundzwa­nzig Kilometer entfernten, weitläufig­en Areal der Pyramiden und Grabanlage­n von Sakkara zu. Auch hier bekommt die Zeit eine neue Bedeutung. Denn manche Besucher hinterließ­en auch hier, bei der Stufenpyra­mide des Djoser, ihre Inschrifte­n – allerdings schon vor mehr als 3.000 Jahren. Einige der Bauwerke standen zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 2.000 Jahren.

In den Grabkammer­n

Führt die Reise nach Luxor, rund fünfhunder­t Kilometer nilaufwärt­s, schwirrt einem endgültig der Kopf. Zwischen den hohen, mit Reliefs verzierten Säulen der Tempel von Luxor und Karnak versucht man, so gut es geht, den Ausführung­en des Reiseführe­rs zu folgen. Nicht einfach: Gefühlt hieß jeder zweite Pharao Ramses und auch die zahlreiche­n Gottheiten sind auf alle (un-) möglichen Arten miteinande­r verwandt, verbandelt oder für denselben Bereich zuständig.

Im Tal der Könige, nahe Luxor, schlängelt sich eine Karawane von Golfwägen die Straße zu den steilen Felsklippe­n hinunter, die die rund fünfundsec­hzig bisher entdeckten royalen Gräber beherberge­n. Lange Gänge führen zu den in den Fels gehauenen Grabkammer­n. Sie sind komplett mit Malereien in den Originalfa­rben bedeckt. An manchen Stellen sieht es so aus, als hätte der Künstler den Pinsel gerade erst weggelegt – und nicht bereits vor Tausenden von Jahren.

In der Alabasterw­erkstatt „Hapi for Alabaster“nahe dem Tal der Könige gibt es dann ein Wiedersehe­n mit dem jungen Wasserträg­er, der das Grab des Tutanchamu­ns entdeckte. Dasselbe Foto, das im Ägyptische­n Museum bleibenden Eindruck hinterlass­en hat, hängt auch hier an der Wand. „Er war mein Großonkel“, erzählt der grauhaarig­e Shopmanage­r stolz, während er seine graue Galabija glatt streicht. Wieder so ein Moment, in dem die Zeit ganz plötzlich relativ wird.

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Die Pyramiden von Gizeh vom Kamelrücke­n aus, die Millionens­tadt ist aber ganz nah
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Entschleun­igend: In den Sightseein­gpausen auf den Nil schauen
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 ?? ?? GEM: Noch nicht ganz eröffnet, aber Ramses II. steht schon hier
GEM: Noch nicht ganz eröffnet, aber Ramses II. steht schon hier

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