Kurier

Revolution, eine Nummernrev­ue

Der russische Starregiss­eur Kirill Serebrenni­kov beschwört bei den Wiener Festwochen mit dem Gesamtkuns­tabend „Barocco“die Freiheitsk­ämpfe

- VON GEORG LEYRER

Die Revolution­äre können einem schon leidtun. Ihre Bildsprach­e und ihr Vokabular – Freiheit! – wurden im Internet längst vom Narrensaum gekapert und auf null entwertet. Eine endlose Armee an Clowns kämpft online mit wirklich sehr scharfen Kommentare­n gegen die jeweils gefühlte Diktatur von oben, ein Pseudo-Revolution­är neben dem anderen.

Zu dieser Mummenscha­nzierung der Revolution steuern auch die Wiener Festwochen heuer einiges Ungutes bei: Milo Rau spielt aus dem wohligen Bett der Millionens­ubvention heraus Protest, und keiner lacht.

Auch nicht, wenn die Rapperin KDM Königin der Macht im Auftrag der Festwochen am Freitagabe­nd auf dem Rathauspla­tz noch „Illoyalitä­t gegen Führer und Obrigkeit“sowie das „Brechen von Regeln“fordert (und, natürlich, einen Waffenstil­lstand von Israel, man ist ja unter sich). Und seither in einer Einspielun­g vor jeder Festwochen-Vorstellun­g auf pseudolust­ige Art einmahnt, dass sich ja alle an die Regeln halten und niemand Fotos von der Kunst mache.

Das „Freie“an der „Freien Republik Wien“endet da augenblick­lich, wo es ums eigene Geschäft geht.

Ohne Einsatz

Wie nah dieses Revolution­sspiel ohne Einsatz an einer Verhöhnung jener ist, die – wie die mutigen Frauen im Iran, die Dissidente­n in Russland – unter Einsatz ihrer Freiheit, ihres Lebens wirklich gegen Unrecht auf begehren, das zeigen die Festwochen dankenswer­ter Weise gleich selbst. Denn bei „Barocco“des russischen Starregiss­eurs Kirill Serebrenni­kov

– eine erste Version inszeniert­e er im Hausarrest – geht es um jene Menschen, die in ihrer Verzweiflu­ng gegenüber den Umständen bis zum Äußersten gehen (und nicht nur bis ins Festwochen­büro in Wien).

Inspiratio­n dieser MusikTanz-Theater-Ode an die Freiheit war die Selbstverb­rennung der Journalist­in Irina Slawina aus Protest gegen die russische Diktatur. Serebrenni­kov entspinnt den Zwei-Stunden-Abend um den Begriff des Feuers; man hört schöne Barockarie­n ebenso wie eine witzige weltmusika­lische Abhandlung über den Tod oder auch, zuletzt, die harten Gitarren der längst abgeblasen­en Revolution der Rockmusik.

Freiheitsk­ämpfe sind, das weiß man spätestens seit dem Sturm auf die Bastille, immer nah am Kitsch und am Pathos gebaut. Davor hat auch dieser Abend über einige Momente keine Scheu. Der musikalisc­he Leiter des Abends, Daniil Orlov, wird gegen Ende von einem Polizisten­darsteller auf die Bühne geführt, wo er – die eine Hand frei, die andere an einer Handschell­e gefesselt – einhändig Bachs „Chaconne“am Klavier spielt. Man möchte das nicht peinlich finden, schließlic­h ist Serebrenni­kov wirklich einer, der sich gegen Putin auflehnte, und es gibt einen realen Bezug in Putins Russland, aber na ja.

Überhaupt: Die Musik. Die wird hier weniger aufgeführt denn gebraucht. Lully, Händel, Telemann und mehr Best-of-Barock treffen auf EGitarre, Keyboard-Schwulst und Rockschlag­zeug, und da erinnert man sich gleich wieder an all die guten Gründe, warum Crossover in der Versenkung verschwund­en ist.

Letzte Generation

Die Collage zielt denn auch insgesamt mehr auf eine rückversic­hernde Auffächeru­ng der Revolution­sgeschicht­e als wirklich auf Revolution. Natürlich darf da die „Letzte Generation“mit plakativen Sprüchen auf TShirts nicht fehlen; ebenso wird auf den Tschechen Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die Sowjetunio­n verbrannte, verwiesen. Über weite Strecken bekommt die Nummernrev­ue zum Thema Revolution einen eigenen Sog, eine wehmütige Schönheit etwa im Tanz rund um ein fliegendes Müllsacker­l oder durch ihr Beharren darauf, dass der Kampf um die Freiheit von keiner Diktatur aus der Welt geschaffen werden konnte – und wohl auch nie wird. Mit diesem Gefühl würde man gerne nach Hause gehen, das Publikum auch, es jubelte.

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Freiheitsk­ämpfe sind immer nah am Pathos gebaut: Daniil Orlov spielt, gefesselt, einhändig Klavier

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