Kurier Magazine - Routen fur Geniesser
MITTEN IM MEHR
Sardinien bietet eine Kurve nach der anderen und griffigen Asphalt: Das Paradies für uns Biker liegt nur eine Fährpassage entfernt.
Es deutet einiges darauf hin, dass ein höheres Wesen ein großes Herz für Motorradfahrer hat. Sonst hätte es nämlich nicht Sardinien erschaffen. Die Insel mag ja für einiges gut sein, etwa für Schafzucht, Fischerei, die Jagd auf Wildschweine und das Ausnehmen von verrückten Milliardären – aber so richtig perfekt ist sie eigentlich nur für uns: Eine Kurve folgt der anderen, ausgekleidet mit dem besten Asphalt, den man sich wünschen kann, und mit einem Verkehrsaufkommen, das außerhalb der Saison ungefähr so dicht ist wie in Schrattenthal zu Mitternacht. Es gibt praktisch keine Einschränkungen für glücksbringende Ritte. Und noch ein Argument wird schlagend: Aufgrund der segensreichen klimatischen Bedingungen im Mittelmeerraum ist Sardinien wie geschaffen dafür, die Saison früher zu beginnen oder hinten anzustückeln. Wenn man bei uns schon den ersten Frost vom Tank kratzt, kann man hier noch genüsslich draußen sitzen und am Ichnusa, dem süffigen einheimischen Bier, nuckeln. Noch dazu liegt Sardinien näher, als man glaubt. Wer nicht die ganze Poebene am Po abreiten will, arretiert die Mopette ab Wien im Autozug nach Livorno und ist eine schnuckelige Nacht später schon am Meer. Dann noch eine flotte Fährpassage und man ist praktisch ohne Kilometerleistung auf der Insel aufgeschlagen. Seine Energien bei der Anreise zu sparen ist durchaus ratsam. Es gibt hier viel zu tun, viel zu sehen, viel zu fahren. Sardinien-Anfängern sei dabei eine ganz einfache Route empfohlen, für die man ganz sicher kein Navi und fast keine Karte benötigt: Man fährt am besten immer hart am Meer einmal um die Insel – und einen Abstecher ins Hinterland, rund um den Gennargen-
tu. So heißt der mächtigste Gebirgszug der Insel, der in der Punta La Marmora auf 1829 Meter Seehöhe gipfelt – ein absolutes Muss für uns Mopettenfahrer.
B eginnen wir also in Olbia im Nordosten, wo die riesigen Fähren in den Hafen hineindampfen und die Touristen ins Land entlassen. Am besten macht man’s wie die Einheimischen – und trinkt einmal einen ordentlichen Caffè, der die Instinkte schärft und das Lebensgefühl auf Süden kalibriert. Dann könnte man ein wenig Olbia erkunden, was nicht ganz schlecht, aber auch nicht ganz toll ist. Wenn Sardinien ein Defizit hat, dann den Mangel an hübschen Städten. Cagliari zum Beispiel, die Hauptstadt, kann man getrost sich selbst überlassen. Es mag hier schöne Ecken geben, aber wir haben sie nicht gefunden. Unser erklärter Liebling unter den fünf größten Städten der Insel ist Alghero im Nordwesten, mit alten Befestigungsmauern, kleinen Gassen, lebendiger Lokalszene und einer kuriosen Melange der Kulturen: Weil Alghero lange Jahre von den Katalanen beherrscht wurde, sprechen hier heute noch viele Einwohner Spanisch und pflegen ihr eigenes Brauchtum. Doch bis wir nach Alghero kommen, liegen noch einige Highlights vor uns. Gleich nach Olbia: die Costa Smeralda. Hat man die Hochsaison gemieden, dann geht hier gleich das Herz auf: fantastische Buchten, weite Blicke auf die vorgelagerten Inseln, eine prächtige Flora mit Bougainvilleen, Myrten, Oleandern und dem allgegenwärtigen Ginster. Man ahnt schon, warum sich hier die Reichen und Schönen vergnügen, von Steven Spielberg bis Lady Gaga. Porto Cervo, der Society-Hotspot, ist jedoch eine einzige Enttäuschung. Hier betreibt zwar Flavio Briatore seinen Billionaire Club, dennoch versprüht der Ort so viel Flair wie eine Fußcreme. Da schwingt man sich lieber schnell aufs Motorrad und klappert all die kleinen Orte entlang der Küste ab: Palau etwa oder San Teresa, das deutlich hübscher und authentischer ist als der Schnöselbeton. Ein paar Kilometer südwestlich von San Teresa wartet das nächste Zeugnis für die Scheußlichkeit des Tourismus:
Eine unscheinbare Abzweigung führt zur Costa Paradiso, einer unwürdigen Ansammlung aus vorwiegend leer stehenden Ferienhäusern und einem Resort. Man könnte sich die Abzweigung sparen, würde nicht am unteren Ende der Straße eine Bucht mit tollen Felsnadeln, die aus dem Meer aufsteigen, warten. Hier kann man gut picknicken, sofern man in den zahlreichen Delikatessengeschäften in San Teresa vorgesorgt und das Topcase beladen hat. In unserem Fall mit dunklem Schinken, aromatischen Würsten, dazu dem typischen Pecorino Sardo und Pane Guttiau. So heißt das heimische, hauchdünne blättrige Brot, das sich die Hirten früher aus Haltbarkeitsgründen gebacken haben. In die Hand noch ein paar Oliverln sowie ein paar sonnengereifte Paradeiser und schon haben wir’s besser als die armen Milliardäre, die beim Briatore ungarische Gänseleber und rohe Fischeier essen müssen. G ut gestärkt und ebenso gelaunt geht’s weiter, zum Beispiel auf die Landspitze im Nordwesten, den Capo del Falcone, wo man schöne Ausblicke auf die benachbarten Inseln hat. Südlich von Alghero ändert sich dann der Charakter der Küste ein wenig: Es wird rauer, windiger, was sich auch in der Bepflanzung bemerkbar macht. Der Romantik tut dies keinen Abbruch, im Gegenteil, die zehn, zwanzig Kilometer hinter Alghero zählen zu den schönsten Strecken, die die Insel zu bieten hat. Jetzt wird’s aber Zeit für den Gennargentu. Bei Oristano verlassen wir daher die Küste und fahren ins Landesinnere. Ab Busachi zieht die Straße die Radien an, da wird’s kurviger und kurviger. Die Harley E-Glide nimmt’s zunächst noch gelassen, dann kreischt sie schon freudig mit Trittbrettern und sprüht Funken vor Glück. Über Atzara geht’s nach Aritzo und damit in eine Welt, die mit der Küste nichts mehr gemeinsam hat. Jegliche Romantik ist vom Tisch gewischt, hier spürt man das harte Leben über die Jahrhunderte und wie bitter die Sarden versucht haben müssen, den kargen Bergen einen Lebensunterhalt abzuringen. Kein Wunder, dass hier auch eigene Gesetze herrschen. Angeblich werden auch heute noch Streitereien untereinander geregelt, es gibt Clan-Fehden, Blutra-
che, aber so genau will man das alles ja gar nicht wissen. Die Einsamkeit zwischen den Ortschaften nimmt gewaltige Ausmaße an und auch in den Orten wird es zunehmend stiller. Die Suche nach einem Restaurant kann man eher vergessen. Entweder gibt es keines oder man findet es nicht. In höchster Notlage fragt man lieber Einheimische, die mit herzerwärmender Freundlichkeit helfen. Noch besser aber, man wendet wieder die Picknick-Strategie an und freut sich auf ein warmes Abendessen später im Hotel. Am Gennargentu wird auch die Navigation wieder kinderleicht. Es empfiehlt sich eine Runde drumherum, wobei man ordentlich Zeit einplanen
sollte. Trotz des größtenteils fantastisch griffigen Asphalts (der profilmordend ist, also unbedingt mit frischen Reifen herkommen!) bekommt man keinen tollen Reiseschnitt auf die Uhr. Erstens, weil’s nur Kurven und Kehren gibt, zweitens, weil man oft stehen bleiben muss. Wegen der Ausblicke, sagt man, aber Herzklopfen und feuchte Hände verlangen ebenso nach regelmäßigen Pausen.
E gal, ob man die Nordroute über Desulo und Villagrande nimmt oder die südliche Strecke über Ussassai und Gairo, die Kurven gehören zum Besten, was Europa, eigentlich die ganze Welt für Motorradfahrer zu bieten hat. Und es ist noch nicht vorbei: Die Wege an die Küste über Villagrande oder Lanusei sind weit mehr als ein Cool-down nach dem drehzahlintensiven Wirken in den Bergen. Aber der Gedanke, beim Abendbierchen oder einem Glas Cannonau, dem berühmtesten der sardischen Rotweine, aufs Meer zu blicken, hat auch eine starke Anziehungskraft. Wer sich in seiner Vorliebe nicht zwischen Ost- und Westküste entscheiden kann, der wählt am besten die Ostküste. Hier gibt’s von allem genügend: weite Sandstrände (im Süden, oberhalb Villasimius), romantische Halbinseln (Arbatax bei Tortolì) und kleine Buchten mit ganz wunderbaren Felsformationen. Solche findet man zum Beispiel in der
Punta Pedralonga, zu der eine kleine Stichstraße 13 Kilometer nördlich von Tortolì abzweigt: Über engste Kehren schraubt sich die große Harley hinunter, bis vor uns die Weite des Meeres aufgeht. Hauptdarsteller ist hier aber nicht das Blau, sondern ein mächtiger Monolith, der aus den Wellen ragt. Ein schöner Platz, da kriegen wir gleich wieder Hunger.Leider sind Topcase und Seitenkoffer diesmal leer, großer Fehler. Also geht’s weiter in die Cala Gonone, eine weitere Entdeckung, an der man nicht vorbeifahren sollte. Die Inszenierung könnte nicht dramatischer sein: Zuerst fährt man hoch am Berg durch einen Tunnel, dann erblickt man die prächtige Kulisse des Meeres und die Straße schraubt sich ähnlich wie zuvor in endlosen Windungen nach unten. Nur wartet hier ein richtiger Ort, unter anderem mit Hafen, Restaurants am Strand und einem steinernen Wachturm aus frühen Tagen.
Was fehlt noch? Ein Ausflug in den Süden. Fürs Motorradfahren ist der Südosten deutlich attraktiver als der weitgehend flache Südwesten. Vor allem das letzte Zipfelchen rechts unten bietet attraktive Strecken. Mit weiten Radien hoch auf der Steilküste geht’s nach Villasimius, wo man sich anscheinend mit dem Tourismus besser arrangiert hat als an der Costa Smeralda. Die Strände hier werden unter der Be- zeichnung Costa Rei geführt und neben den Sandbändern etwas nördlicher findet man im Süden wieder kleinere Buchten. Letztes Highlight: 30 Kilometer hinter Cagliari hat sich der Riu di Cannas mit unermüdlicher Sturköpfigkeit durch das Gebirge gefressen und uns eine Schlucht beschert, die jeden Fotografen an den Auslöser zwingt. Vor allem im Abendlicht ergibt sich hier ein Spiel der Farben und man macht lieber schnell, bevor der kombinierte Rausch aus Kurven und Licht zu einer spontanen Entscheidung führt: die Fähre sausen zu lassen, den Urlaub zu verlängern und auf unbestimmte Zeit azurblau zu machen.