ZU BESUCH BEI MR. CARTER
Das Haus des Tutanchamun-entdeckers Howard Carter ist heute ein verstaubtes Kleinod. Von hier aus brach er am 4. November 1922 auf, um den Fund seines Lebens zu machen. VON SUSANNE MAUTHNER-WEBER (TEXT) UND WILLY LEITGEB (BILDER)
Das Haus des Tutanchamun-entdeckers Howard Carter ist heute ein verstaubtes Kleinod. Von hier aus brach er 1922 auf, um den Fund seines Lebens zu machen.
ZEITREISE. Wer nach Norden Richtung Tal der Könige will, muss daran vorbei. Kurz hinter der Abzweigung zur Ruhestätte vieler Pharaonen, liegt es, das Carter Castle. Der groſsspurige Name täuscht. Das Wohnhaus des Ägyptologen Howard Carter ist bescheiden und zweckmäſsig. Und durchaus einen Besuch wert, wenn man nicht nur die übliche Tempelgrab-schiff-tour machen möchte. 1910 von George Herbert, dem 5. Earl of Carnarvon, für Carter errichtet, und 2009 als Museum eröffnet, atmet der Ziegelbau mit der Holzdecke den Geist von damals – so, als wäre der weltberühmte Tutanchamun-entdecker erst vor einer Viertelstunde aufgestanden, um zur Arbeit zu gehen. Das Bett ist ungemacht, gleich daneben steht sein Toilette-koffer mit Fläschchen, Tinkturen, Bürsten und Maniküre-set – alles total verstaubt. Sogar die Vorhänge wirken, als wären sie seit 1922 nicht mehr gewaschen worden. Auf Garderobenhaken an der Wand im Arbeitszimmer haben zwei Sonnenhüte des Ägyptologen die Jahrzehnte überdauert, im Eck lehnen Carters Spazierstöcke. In der hauseigenen Dunkelkammer entwickelte der Wissenschafter seine Grabungsfotos. Und im Arbeitszimmer steht neben einer Schreibmaschine auch ein Schallplattenspieler – und jener Telegraphenapparat, auf dem sich die Nachricht von der Entdeckung des einzigen unversehrten Pharaonengrabs in die Welt verbreitet hatte.
RÜCKBLICK. 4. November 1922. Wir schreiben Tag drei der Grabungssaison. Nach fünf erfolglosen Wintern ist es Howard Carter nur mit Mühe gelungen, seinem Geldgeber Lord Carnarvon eine sechste und letzte Grabung abzuschwatzen. Wie jeden Tag bricht der britische Grabungsleiter frühmorgens von seinem Haus am Eingang des Tals der Könige zu seinem Arbeitsplatz auf. Doch an diesem Tag ist alles anders: Ein aufgeregter Arbeiter berichtet, man habe eine in den Felsen gehauene Stufe freigelegt, die sich bald als Beginn einer Treppe zum Eingang eines Grabes entpuppt. Am amtlichen Siegel der thebanischen Totenstadt erkennt Carter sofort, dass dahinter eine hochrangige Persönlichkeit bestattet wurde. Er stöſst ein Loch
in die Tür, führt eine Lampe hinein und erblickt einen bis zur Decke mit Geröll gefüllten Gang. Tags darauf schickt er von Carter House aus ein Telegramm nach Highclerce Castle, dem südenglischen Wohnsitz Lord Carnarvons (bekannt aus der Kultserie Downton Abbey) : „Habe endlich wunderbare Entdeckung im Tal gemacht; ein groſsartiges Grab mit unbeschädigten Siegeln; bis zu Ihrer Ankunft alles wieder zugedeckt. Gratuliere!“
HOFFNUNG. Obwohl das Tal der Könige in der Fachwelt bereits damals als archäologisch ausgereizt galt, lässt Carter später wissen, „dass wir entschieden Hoffnung hatten, das Grab eines bestimmten Königs zu finden, und dieser König war Tutanchamun.“Die Tragik dabei: Bereits 1917 war Carter ganz nahe dran gewesen. Damals untersuchten seine Arbeiter das Gelände rund um das Grab Ramses VI. Wer die riesige Ruhestätte, die sich an die von Tutanchamun schmiegt, heute besichtigt, kann gut nachvollziehen, was passiert sein muss: „200 Jahre nach Tutanchamuns Tod bauten Ramses V. und VI. etwas oberhalb seines Grabes“, berichtet der Ägyptologe Tarik Tawfik. „Kurz davor muss es meines Erachtens einen Sandsturm gegeben haben, der teilweise den Zugang zum Grab eingesandet hatte. Danach kam der Schutt vom Grab Ramses V. und VI. dazu. Zuletzt haben dann noch die Arbeiter ihre Lehmhütten direkt über den Eingang gebaut. Daher ist später nie jemand darauf gekommen, dass hier ein königliches Grab liegen könnte.“Peu à peu gab der Sand dann aber Stücke frei: 1905 einen Fayencebecher mit dem Namen Tutanchamun, zwei Jahre später Tongefäſse mit Leinwandbündeln. 1917 entdeckte Carter sogar die Hütten der Arbeiter – eigentlich ein untrügliches Zeichen für die Nähe eines Grabes. Doch weil das benachbarte viel besuchte Ramessiden-grab für Touristen zugänglich bleiben musste, lieſs der Ägyptologe woanders weitersuchen. Die Schwierigkeit dabei: Carter und Carnarvon sahen sich einem »
künstlichen Schuttgebirge von entmutigendem Ausmaſs gegenüber. Seit den Zeiten eines Giovanni Belzoni, der im Tal der Könige bereits gut 100 Jahre vor Carter die Gräber von Ramses I., Sethos I. und anderen leer geräumt hatte, waren hier Dutzende Ausgräber zugange gewesen. Keiner hatte Aufzeichnungen hinterlassen. Carter blieb nichts anders übrig, als alles zu durchforsten. Letztlich ist die Entdeckung des Grabes aber ausgerechnet Plünderern zu danken. Ägyptologe Tawfik: „Kurze Zeit nach dem Begräbnis Tutanchamuns gab es den Versuch, das Grab zu plündern. Die Grabräuber wurden überrascht, und die Nekropolenwächter haben das Grab wieder versiegelt. Dieses Siegel haben wir, und es wird auch im Grand Egyptian Museum ausgestellt.“Gleichzeitig seien den Grabräubern aber Stücke heruntergefallen. „Und die fand Howard Carter. Darum wusste er, dass hier das Grab des Tutanchamun lag. Der Name war nicht so bekannt. Er suchte nach einem Phantom.“
TAG DER TAGE. Unterdessen dauert es fast drei Wochen, bis Lord Carnarvon mit seiner Tochter Evelyn in Luxor eintrifft. Der Schutt wird abermals beiseite geschafft. Mitte Februar 1923 werden die Arbeiten in der Vorkammer beendet, sie ist nun völlig leer geräumt. Man hat Freitag, den 16. Februar, als den Tag der Tage festgesetzt. Um 14 Uhr treffen sich Carnarvon, seine Tochter, Carter und etwa 20 weitere Personen vor dem Grab. „Dort vor uns war die versiegelte Tür, und wenn wir sie jetzt öffneten, so würden wir Jahrtausende überbrücken“, schrieb Howard Carter später über diesen Augenblick. „Wir würden uns in Gegenwart eines Königs befinden, der vor 3000 Jahren herrschte. Meine Gefühle waren seltsam gemischt und meine Hand zitterte, als ich den ersten Schlag führte.“Carter benötigte etwa zehn Minuten, um für seine Lampe ein kleines Loch zu bohren. „Als meine Augen sich an das Licht gewöhnten, tauchten bald Einzelheiten im Inneren der Kammer auf.“
WUNDERBARE DINGE. Lord Carnarvon konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen und fragte: „Können Sie etwas sehen?“Alles, was Carter herausbrachte, war: „Ja, wunderbare Dinge!“Carter später: „Sicher hatte man nie vorher in der ganzen Geschichte von Ausgrabungen so Groſsartiges geschaut, wie es uns jetzt das Licht unserer elektrischen Lampen enthüllte.“Womit die Ausgräber aber sicher nicht gerechnet hatten, war die überwältigende Resonanz in der Weltöffentlichkeit. In Europa und den USA brach eine regelrechte Tutmania aus, ein aktueller Schub des seit Napoleons Feldzug grassierenden Altägyptenfiebers (Seiten 16 bis 21) . Carter indes lässt die Chance, seine Entdeckung zu vermarkten, scheu wie er ist, ungenutzt. Zehn Jahre lang »
wird er damit beschäftigt sein, seinen Fund zu dokumentieren und ins Museum nach Kairo zu verfrachten. Jedes der 5398 offiziell verzeichneten Objekte erhält von ihm eine Nummer, wird fotografiert und beschrieben. Diese penible Arbeit erleichtert folgenden Wissenschafter-generationen die weitere Erforschung des Schatzes. Denn: Tutanchamuns Grabkammer ist die einzig ungeplünderte unter 64 bisher entdeckten. Sie ist eine äuſserst wertvolle Quelle für das Verständnis des Alten Ägypten. Anders als viele Forscher glaubt der Ägyptologe Tarek Tawfik nicht, dass Tutanchamun ein unwichtiger König war: „Ganz im Gegenteil. Tutanchamun hat eine sehr wichtige Rolle gespielt. Er war keineswegs unbedeutend, denn durch ihn kamen der Gott Amun und seine Priesterschaft wieder an die Macht. Das lässt sich an vielen Artefakten im Grab sehr schön nachvollziehen.“Dieser junge Mann sei wahrscheinlich von den Priestern des Amun richtig missbraucht worden, um den Amunkult wieder zu positionieren, glaubt Tawfik. Tutanchamun wurde in Amarna, der Stadt des Echnaton, als Tutanchaton geboren. Sein Vater hatte alle Götter zugunsten Atons verbieten lassen (siehe Seite 56) , starb aber bald. Tutanchaton (er nannte sich erst später Tutanchamun) kam mit acht Jahren an die Macht „und es scheint, dass die Macht der Amunpriester seit dem Beginn seiner Herrschaft ständig zugenommen hat, bis er den Amunkult wieder einführte“, sagt Tawfik. „Ich glaube, sein Grab war sehr reich ausgestattet. Und dass der Bestattungszug des Königs groſs zelebriert wurde, um zu zeigen, dass die alten Riten und das alte Gedankengut wieder da sind. Es war sehr wahrscheinlich ein richtiges Event.“■