Kurier Magazine - Architektur

Oscar Niemeyer

1907–2012

- VON ANJA GEREVINI

Sinnliche Formen und biomorphe Architektu­r

Sie erinnern an Ufos, Salatschüs­seln oder betende Hände: Mehr als 500 Bauwerke hat Oscar Niemeyer hinterlass­en. Jedes einzelne beeindruck­t durch seine Formsprach­e.

steht für:

Der brasiliane­r ist ein wichtiger Vertreter der biomorphen Architektu­r. Seine Entwürfe zeichnen sich durch ein klares Bekenntnis zur Moderne aus, obwohl sie zugleich für sinnliche Formen stehen.

wichtigste Bauwerke:

Bauten für Brasília, Kirche São Francisco de Assis, Museum für zeitgenöss­ische Kunst in Niterói, Kulturzent­rum von Le Havre

Den ersten Schritt aus dem Flugzeug werde ich nie vergessen. Die Hitze war wie eine Wand, gegen die ich prallte. Und diese Trockenhei­t. Nach nur wenigen Sekunden zeigten meine Lippen die ersten Risse. Damit passten sie sich an die Umgebung an. Mit dem Taxi fuhr ich durch die Cerrado, die rote Erde war gesprungen. „Warum bin ich nur hierhergek­ommen?“, fragte ich mich selber, während eine staubige, trostlose Landschaft an mir vorüberzog. Die Antwort erhielt ich prompt, als ich am Mittelpunk­t des Plano Piloto aus dem Taxi stieg. Der Beton flirrte in der Hitze. Plötzlich war das aber nur mehr Nebensache, denn vor mir breitete sich die wohl berühmtest­e auf einem Reißbrett geplante Hauptstadt aus: Brasília.

ZEICHEN DES AUFSCHWUNG­S.

Die futuristis­chen beton bauten von oscar Niemeyer haben Brasília zu dem gemacht, was es ist. Sie sind auch der Grund, warum es Touristen hierherzie­ht. Und sie sind ein Synonym für den Aufstieg einer Nation. In den 1950er-jahren macht Brasilien erste Schritte von einem landwirtsc­haftlich geprägten Land in Richtung Industrien­ation. In São Paulo beginnt die Produktion­dervw-käfer, verstärkte Exporte bringen devisen. Brasilien ist in Aufbruchst­immung. Genau diese will der frisch gewählte Präsident Juscelino Kubitschek aller Welt zeigen. Die schon lange gehegten Pläne, dem von portugiesi­schen Kolonialhe­r ren gegründete­n rio de janeiro den Titel hauptstadt zu entziehen, setzt er endgültig in Tat um. Eine moderne Stadt soll entstehen. „Natürlich ging es auch um Macht und Selbstdars­tel- lung “, erzählt Architektu­r kritiker undniemeye­r-kennermori­tzholfelde­r.„dieideewar, einehaupts­tadtzu schaffen, die architekto­nisch neue Wege geht.“Juscelino Kubitschek beauftragt den Architekte­n Oscar Niemeyer und den Stadtplane­r Lúcio Costa. Sie sollen das in Beton gegossene wunder umsetzen–und zwar mitten im Nirgendwo, Hunderte Kilometer von der nächsten stadt entfernt. Kubitschek­s Kalkül ist klar: Das be- na ch teiligte binnenland solle von dem wirtschaft­lichen Aufbruch profitiere­n. Und so fällt die wahl auf das zentrale Hoch land im Inneren Brasiliens.

GEKREUZTE LINIEN.

Inzwischen war ich auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der drei Gewalten, angelangt. Irgendwie wartete ich nur darauf, dass Sean Connery als James Bond um die nächste Ecke biegt. Die weitläufig­en Plätze, auf denen immer

noch futuristis­ch anmutende Betongebäu­de in perfekter Harmonie angeordnet sind, erinnerten mehr an eine Filmkuliss­e der 1970er-jahre als an eine belebte Hauptstadt. Das lag möglicherw­eise auch daran, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war, denn am Wochenende herrscht in Brasília alles andere als Partystimm­ung. Vom Präsidente­n bis zum Beamten – wer kann, verlässt die Hauptstadt am Freitag nachmittag und fliegt an den Strand. Aber diese Gebäude… trotz ihrer größe wirkten sie auf mich grazil, fast federleich­t, trotz ihrer Entrückthe­it schienen sie mich einzuladen, näherzukom­men. Ich stand da und schaute, zu mehr war ich nicht fähig .„ das ist der reflex, den man bei Niemeyer immer hat“, weiß Moritz Holfelder. „Seine Gebäude haben eine geometrisc­h ungewöhnli­che Form und man möchte sie unbedingt betreten.“

Zwei sich kreuzende Schotterpi­sten – sonst gibt es weit und breit nichts. Hier soll die neue Hauptstadt 1956 entstehen. Neu ist die Idee nicht. Bereits 1922 findet eine symbolisch­e Grundstein­legung statt – ganz in der Nähe des heutigen Zentrums der Hauptstadt. Doch erst Präsident Juscelino Kubitschek setzt den alten Plan in die Tat um. Grundlage für Brasília ist der Plano Piloto, der einfache klare Masterplan von Lúcio

Costa. Seiner Überzeugun­g nach bildet sich eine Stadt am Schnittpun­kt von zwei Verkehrswe­gen. Also bringt der Planer zwei Achsen zu Papier. An der kürzeren, der eixorodo via rio, liegen die wohnquarti­ere. An der längeren Achse hingegen, an der Eixo Monumental, fädeln sich die Regierungs­gebäu de auf. Vom schnittpun­kt, dem Busbahnhof, hat man ungehinder­ten Blick in beide Richtungen.

GEBAUTE UTOPIE.

Und hier kommt Oscar Niemeyer ins Spiel. Er gießt Co stasi deeninbe ton .„ nie meyer war ein enger Freund des Präsidente­n, sie waren Buddys“, erzählt Moritz Holfelder. „Kubitschek hat sein Genie erkannt und ihm vertraut, wodurch Niemeyer bei den Entwürfen freie Hand hatte.“Die Gebäude, die den Architekte­n weltberühm­t machen, liegen an der Eixo Monumental, genauer gesagt am Praça dos Três Poderes. Dawärediec­atedralmet­ropolitana Nossa Senhora Aparecida, deren weiße säulen so manchen besucher an die Dornenkron­e Christi erinnern. Andere sprechen von betenden Händen. Oder der Palácio do Planalto, der Arbeitspla­tz des brasiliani­schen präsidente­n. Für ihn kombiniert nie meyer gekonnt einen Kubus mit gebogenen Streben an der Fassade, was dem Gebäude eine bemerkensw­erte Leichtigke­it verleiht. Nicht zu vergessen der Congresso National. Er besteht aus drei Teilen: Hinter einem lang gestreckte­n Flachbau erheben sich zwei schlichte Hochhäuser, in dem die Büros der Abgeordnet­en untergebra­cht sind. Auch sie ziehen die Blicke auf sich, werden aber durch zwei kuppeln –wobei eine quasi verkehrt herum auf

dem Flachbau liegt – abgelenkt. Obwohl diese aus Beton sind, wirken sie trotz ihrer Größe nicht plump. „Nie meyer ward er Erste, der Skulpturen gebaut hat “, betontmori­tzholfelde­r .„ und was er in vollendung und auch als einer der Ersten verfolgt hat, war das biomorphe Bauen – er wagte also eine viel weichere, runder e Geometrie. Als er als architekt anfing, war das nicht üblich, da war es schon sehr mutig.“Oscar Niemeyer sagte selbst dazu: „Architektu­r muss Überraschu­ngen kreieren, sie muss ein Gefühl oder sogar einen Gefühlsaus­bruch erzeugen.“

VOLLERLEBE­NSLUST.

Ichstandin­der Kathedrale von Brasília, die scheinbar unendlich in die Höhe strebt. Der Raum ließ mich fast schwindlig werden. Zwischen den weißen Säulen spannt sich ein glas dach, in blau-und Weißtönen gehalten. Das hindurchfa­llende Licht verleiht dem riesigen Raum, der 4000 Menschen fasst, eine einmalige Atmosphäre. Mein Blick wurde auch durch die unter der Kuppel schwebende­n engel magisch angezogen .„ Nie meyer war bekennende­r Kommunist “, dachte ich beeindruck­t. „Wie konnte er als Atheist den Glauben so umsetzen?“Sein großes talent zeigt sich nicht erst, als der Architekt Brasília sein Aussehen verleiht. Schon sein erster Entwurf verrät seine Genialität. Das Casa Canoas, einwohnhau­s, dasniemeye­r für sich selbst baute, fängt das gelände und die natur ein und gibt diese durch weiche Konturen wider. „Seine große Leistung ist, neue formen in die architektu­r zubringen “, soMoritzHo­lfelder .„ Erwa rauche in großartige­r

Kreateur von räumen–im gegensatz zu vielen anderen architekte­n war ihm das Atmen des Raumes sehr wichtig.“Oscar Niemeyer liebte den Beton, der ihm seine bauten ermöglicht­e. Er liebte die Moderne in einer sinnlichen Variante .„ als ich ihn kennenlern­en durfte, traf ich au feinen lebensbeja­henden Menschen“, so Holfelder. „Niemeyer war Brasiliane­r durch und durch – er liebte sein Land, die Natur und die Frauen. Die weiblichen Kurven, so sagte er selbst, inspiriert­en ihn zu seinen Entwürfen.“Der Architekt starb am 5. Dezember 2012 mit 105 Jahren in Rio. Im Lauf seiner Karriere schuf er mehr als 500 Bauwerke–alle mit seiner einzigarti­gen handschrif­t. Ein jahr nach seinem Tod wurde sein archiv zumun es co Welt dokumenten erbe erklärt .„ Die Architektu­r ist nur ein vorwand “, sagte Oscar Nie meyer .„ Wichtig ist das Leben, wichtig ist der Mensch, dieses merkwürdig­e Wesen mit Seele und Gefühl, das nach Schönheit und Gerechtigk­eit hungert.“

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria