AUFSTEIGER DER SAISON
» In der zweiten Jahreshälfte spielte sich ein Herr besonders ins Rampenlicht: Daniil Medwedew, ein 23-jähriger Moskowiter mit unkonventionellem Spiel und manchmal auch unberechenbarem Charakter. Ein Akteur, der seine Gegner mit mathematischer Präzision, mit allen möglichen Finten und Finessen und mit zermürbender Hartnäckigkeit ausmanövrierte. Und der inzwischen in dieser Saison mehr Siege in seinem Arbeitszeugnis stehen hatte als die Altvorderen, die Ü-30Fraktion auf dem Gipfel. Auch gegen Alexander Zverev gewann Medwedew, es war schon sein zweiter Masters-turniertriumph. Schanghai markierte den bestaunenswerten Höhepunkt seiner neuen Konstanz auf hohem Niveau, schließlich hatte er dort das sechste Endspiel im Wanderzirkus hintereinander erreicht. „Eins ist klar“, sagte Ex-größe John Mcenroe, „Medwedew ist eine Riesenbelebung. Ein Typ, ein Charakter. Einer, der mehr bietet als nur Tennis.“Zverev, der noch amtierende Atp-champion, adelte den Konkurrenten sogar mit den Worten: „Er ist der beste Spieler der Welt momentan.“Also noch besser als Djokovic, besser als Nadal, besser als Federer.
Dabei hatte den schlaksigen, immer etwas linkisch wirkenden 1,98-Meter-riesen vor dieser Saison noch niemand auf der Rechnung, als über die Tennis-thronfolge spekuliert wurde. Wenn Medwedewindieschlagzeilen geriet, dann ehermiteigentümlichenzwischenfällen – etwa, als er 2017 in Wimbledon einmal einer Schiedsrichterin Geldmünzen vor die Nase warf, um sie vermeintlicher Käuflichkeit zu bezichtigen. „Ich stand mir lange Zeit selbst imweg. Ichhattegroßeproblememit meinen Wutausbrüchen“, sagt Medwedew, „oft dachten die Fans: Der Kerlist dochwahnsinnig.“Erst vor anderthalb Jahren bekam seine Karriere
ÜBERRASCHUNG.
einen sanften, aber doch entscheidenden Schub: Er stellte damals seine Ernährungkomplettum, verzichtete auf Süßigkeiten und Fastfood. Er engagierteeinenpersönlichenphysiotherapeuten. Und er arbeitete regelmäßig mit einer Mentaltrainerin zusammen, um die Dämonen der Vergangenheit zuvertreiben, seinenjähzorn, seinezuweilen irren Black-outs. „Mein Leben ist einfach ein Stück normaler geworden. Ich zocke auch nicht mehr die ganze Nacht auf der Playstation herum“, sagt Medwedew. Party mache ich jetzt lieber auf dem Platz.“Auch seiner Ehefrau Daria verdanke er „unheimlich viel: Sie ist der große Halt für mich. Seit unserer Heirat ging es immer nur aufwärts.“Bei denusopenwarmedwedewimspätsommer die auffälligste Erscheinung in der Karawane der Profis gewesen. Als er einem arglosen Ballmann in der Drittrundenpartie gegen den spanischen Veteranen Feliciano López wütend das Handtuch entriss und dann später noch dem aufgebrachten Publikum klammheimlich den Mittelfinger zeigte, war er zunächst wieder in die Rolle des Bad Boy zurückgestolpert. Erst recht, als er in seinen CourtInterviews danach noch grinsend behauptete: „Ihr habt mir so viel Energie gegeben, als ihr gegen mich wart.“
Doch nach diesem leicht zynischen „Ich liebe Euch doch alle“-auftritt wandelte sich langsam, aber sicher die Wahrnehmung des kämpferischen Russen. Medwedew wurde zum geliebten Bösewicht, er bot den verrückten New Yorkern genau jene leichte Verrücktheit, aber auch Courage, die sie so mögen. Als Medwedew das Finale gegen Nadal nach dramatischen fünf Sätzen verlor, wurde er mit brausendem Applaus verabschiedet, erwarauchalsverlierer zum Gewinner geworden.
WAHRNEHMUNG.
Daniil Medwedew gewann im zweiten Halbjahr seine Spiele nach Belieben. Weil er auch das Image eines Bad Boys ablegte und zu einer Riesenbelebung der Tennis-szene wurde.