Kurier (Samstag)

„Wir warten auf unsere Chance“

Georgiens Verteidigu­ngsministe­rin: EU und NATO in „Reaktionsm­odus“gegenüber Russland

- VON STEFAN SCHOCHER

Georgien strebt in die NATO, will sich der EUannähern, hat in den vergangene­n zehn Jahren massive Reformen umund seine Bürger damit großen Belastunge­n ausgesetzt – greif bare Ergebnisse lassen aber auf sich warten. Und gerade der gegenwärti­ge Konflikt mit Russland bringt neue Dynamiken in den Prozess der Annäherung. Tinatin Khidasheli ist Verteidigu­ngsministe­rin des Landes. Der KURIER traf sie zum Interview. KURIER: Angesichts der gegenwärti­gen Lage im Kaukasus und in der Ukraine – wo orten Sie denn die größten Gefahren für Georgien? Tinatin Khidasheli:

Das vergangene Jahr war sehr komplizier­t. Die Länder suchen nach Optionen. Alle Länder in der Region versuchen, aus der Krise zu kommen und suchen ihre eigenen Wege, um zu überleben. Die Entwicklun­gen in der Ukraine geben nicht viel Raum für Optimismus. Jeder muss seine Wahl treffen. Nicht nur die Länder in der Region – auch unsere Partner und Freunde. Ich bin der Ansicht, dass die Herausford­erungen, die Russland gerade stellt, nicht gegen Tiflis oder Kiew oder Baku oder Erewan gerichtet sind. Es geht um Washington, Brüssel und alle anderen Hauptstädt­e des Westens. Der Ball liegt jetzt gerade auf der anderen Seite des Spielfelde­s. Der Riga-Gipfel der EU-Nachbarsch­aft, das Treffen der assoziiert­en Mitglieder – welchen Eindruck hat der bei Ihnen hinterlass­en. Die erhofften Visaerleic­hterungen gab es ja nicht?

Ich würde sagen, es war ein sehr positiver Gipfel. Ja, die Visalibera­lisierunge­n gab es nicht für Georgien. Aber es gibt eine prinzipiel­le Entscheidu­ng darüber, und es ist nur eine Frage der Zeit – und kurzer Zeit. Ich denke positiv: Wir haben eine Deadline, wir haben einen Zeitrahmen, und jetzt ist es nur mehr eine Frage der technische­n Umsetzung. Macht die EU derzeit genug für ihre assoziiert­en Mitglieder – Georgien ist ein assoziiert­es Mitglied, die Ukraine auch? Naja. Man kann immer

Tinatin Khidasheli Verteidigu­ngsministe­rin sagen, es ist Platz für mehr (lacht, Anm.). Aber alles in allem: Die EU ist sehr verlässlic­h dabei, ihre Verspreche­n zu erfüllen. Wir können das Timing diskutiere­n, wir könnten sagen, gewisse Dinge hätten zwei Jahre früher gemacht werden können, aber wir leben in einer realistisc­hen Welt – man kann sagen, die EU macht einen sehr guten Job in den Beziehunge­n zu uns. Gilt das auch für die NATO?

Da gibt es einen Unterschie­d, das kann man nicht leugnen. Wir sind in den Beziehunge­n zur NATO in einer umgekehrte­n Lage als in den Beziehunge­n zur EU: Die technische Arbeit ist von unserer Seite erledigt, was fehlt, ist die politische Entscheidu­ng zur Aufnahme in den Membership Action Plan (MAP) und in der Folge zu einer Mitgliedsc­haft – die uns ( beim NATO-Gipfel 2008, Anm.) in Bukarest versproche­n wurde. Wird das passieren in den nächsten zehn Jahren?

Realistisc­h gesehen kann das in zehn Jahren passieren – in einem Jahr, jederzeit. Wir müssen bereit sein, um unsere Chance zu ergreifen. Wir warten auf unsere Chance. Da besteht aber die Frage der abtrünnige­n Territorie­n Südossetie­n und Abchasien, die die NATO abschreckt – schließlic­h stehen da russische Truppen und sie werden von Russland anerkannt.

Für die Mitgliedsc­haft, ja. Für die Aufnahme in den Membership Action Plan sehe ich das nicht. Es gibt keine kollektive Sicherheit. Aber wenn Russland mit dem, was es in der Ukraine derzeit tut, durchkommt, wird es in der Ukraine nicht stoppen. NATO oder EU können nicht weiter so agieren, wie sie es heute tun – nur im Reaktionsm­odus. Es gibt viele Optionen, und viele Entscheidu­ngen müssen getroffen werden, hier in den Hauptstädt­en. Leider sind unsere Optionen in Tiflis limitiert. Wir haben unsere Wahl getroffen. Der NATO-Warschau-Gipfel (2016, Anm.) muss uns eine klare Antwort geben. Es ist der Moment gekommen, an dem wir nicht noch einmal vertröstet werden können. Der Krieg in der Ukraine hat auf der anderen Seite ganz offensicht­liche Schwächen der NATO sichtbar gemacht. Ist denn die NATO tatsächlic­h ein Sicherheit­sfaktor oder vielleicht doch mehr ein Risiko?

Es kommt darauf an, woher man das betrachtet. Aus Moskauer Sicht sieht die NATO definitiv schwach aus. Aus der Sicht Tiflis tut sie das nicht. Sie ist heute weitaus resoluter, stärker, als sie es 2008 war, als wir im Krieg mit Russland waren. Aber wenn Moskau nicht überzeugt ist, dass die NATO-Prinzipien bestehen, was wird sie stoppen? Uns MAP zu geben würde die NATO stärken. Die NATO braucht uns derzeit mehr als politische­s Signal an Russland, als wir die NATO. Was würde es bedeuten, wenn MAP nicht passiert?

Es wäre nicht das Ende Georgiens, aber es wäre eine Tragödie.

„Die NATO braucht uns derzeit mehr (...) als wir die

NATO.“

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