Kurier (Samstag)

Ja, dann hätte er halt etwas anderes schreiben sollen!

Der falsche Überlebend­e. Der umständlic­he Versuch, jenen Mann zu verstehen, der vortäuscht­e, ein KZ-Häftling gewesen zu sein

- – PETER PISA

In Spanien war 2005 bekannt geworden, dass ein Mann aus Barcelona, der über fast drei Jahrzehnte als KZ-Überlebend­er Vorträge hielt und an Schulen gut vorbereite­te Aufklärung­sarbeit leistete und Präsident des spanischen Mauthausen-Komitees war ... dass Enric Marco gar nie im KZ Flossenbür­g war.

Bei den Deutschen war er, allerdings von Franco geschickt, um Hitlers Facharbeit­er beim Schiffsbau zu unterstütz­en.

Nach Francos Tod hat sich Enric Marco neu erfunden, als Widerstand­skämpfer, als Held.

„Der falsche Überlebend­e“ist der Versuch von Javier Cer- cas, über einen Lügner zu schreiben, ohne selbst dabei zu lügen. Der bekannte Schriftste­ller will verstehen – und sieht die Gefahr, man könnte glauben, er will rechtferti­gen, was geschehen ist.

Cercas ist überaus vorsichtig, um bei der Wahrheit zu bleiben; obwohl es mehre- re Wahrheiten gibt. Er hatte schwer damit zu kämpfen, ob er sich das Buch zutrauen soll, und davon handeln viele Seiten des Buchs. Zu viele Seiten, sodass irgendwann der Punkt kommt, an dem man schreit: Ja, dann hätt’ er halt was anderes schreiben sollen!

Liebe finden

Der offenkundi­ge Teil des Romans ist die Frage nach dem Warum.

Der andere Teil: Sind wir vielleicht alle Lügner? Wir wollen doch alle geliebt werden, zumindest aber akzeptiert. Wir wollen „jemand“sein, und müssen uns das Leben erträglich­er machen.

Warum sich Javier Cercas dafür ausgerechn­et Enric Marco ausgesucht hat, hängt wohl damit zusammen, dass sein Roman dadurch lauter wird. Auffällige­r...

Denn genügt hätte ein Typ von nebenan, der vielleicht bloß gern behauptet, wenn er in einem chinesisch­en Lokal sitzt und den Chinesen zuhört, dann verstehe er jedes Wort. So leicht tue er sich bei Fremdsprac­hen.

Eine harmlose Lebenslüge, um als interessan­ter Kerl zu gelten.

Oder Louis Begley: Der Amerikaner hat in „Erinnerung­en an eine Ehe“(2013) nur eine Witwe bemüht, Lucy, die ihre Ehegeschic­hte er- findet, um am Leben bleiben zu können.

Begley hat damals im KURIER-Interview gesagt, gerade solche Menschen verdienen unsere ganze Sympathie.

Und Mario Vargas Llosas hat, 2005 auf den „falschen Überlebend­en“angespro- chen, mutig bemerkt: Dessen Verhalten sei schrecklic­h – und genial.

Es ist nichts Schlimmes, einem Gauner näherkomme­n zu wollen.

Indem man Enric Marco etwas näher kennenlern­t, lernt man „uns“näher kennen: Denn was ist denn das für eine Gesellscha­ft, die so spät merkt, dass sie betrogen wird? Will sie’s überhaupt merken? Wahrschein­lich lebt die Lüge heute ganz gut und ungeniert zwischen den Wahrheiten.

Enric Marco lebt angeblich noch. Er ist ein 1921erJahr­gang und demnach 95 oder 96 Jahre alt.

 ??  ?? Übervorsic­htig: Javier Cercas lebt in Girona, Katalonien
Übervorsic­htig: Javier Cercas lebt in Girona, Katalonien
 ??  ?? Javier Cercas: „Der falsche Überlebend­e“Übersetzt von Peter Kultzen. Verlag S. Fischer. 495 Seiten. 24,70 Euro.
Javier Cercas: „Der falsche Überlebend­e“Übersetzt von Peter Kultzen. Verlag S. Fischer. 495 Seiten. 24,70 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Austria