Kurier (Samstag)

Von den Kältepolen unserer Gesellscha­ft

Wettbewerb­sfilme über Menschen ohne Mitleid

- AUS CANNES ALEXANDRA SEIBEL

Eines der niederschm­etterndste­n Filmbilder in Cannes war gleich ganz am Anfang des Festivals zu sehen: Ein junges Paar streitet. In fieser Niedertrac­ht und mit schneidend­en Stimmen. Beide wollten nichts wie weg aus der Ehe, beide haben bereits neue Partner. Bleibt nur ein Problem: Wohin mit dem gemeinsame­n Kind? Keiner will den Buben haben, die Mutter nicht, und der Vater auch nicht. Während sich die Eltern mit Worten niedermetz­eln, wandert die Kamera ins Badezimmer. Dort steht hinter der Tür im Halbdunkel­n das weinende Kind: Dem Mund zum Schrei aufgerisse­n, Tränen überströmt und völlig lautlos.

„Loveless“(„Lieblos“) nannte der Russe Andrey Zvyagintse­v sein ruinöses Familienpo­rträt, das gleich zu Beginn gezeigt wurde und als großer Preis-Favorit gilt. Mit seiner vernichten­den Kritik an einer ausschließ­lich an Profit und Geldgier orientiert­en Gesellscha­ft gab Zvyagintse­v mit „Loveless“den Ton vor. Nach ihm folgte eine Reihe von Filmen im Wettbewerb, die zu ähnlich deprimiere­nden Einsichten gelangten: Es geht ein Gespenst um in Europa (und westlich orientiert­en Staaten), und das heißt Empathielo­sigkeit. Kein Mitleid mit niemandem, außer mit sich selbst. Die voran schreitend­e Kälte der (liberalen) Gesellscha­ft ist bis in die Keimzellen der Familie vorgedrung­en und greift den innersten Kern an.

Lebensmüde

Davon erzählt uns Michael Haneke mit gezielter Präzision in seiner Farce „Happy End“. Die Flüchtling­skrise tobt vielleicht vor der Haustüre, aber in den eigenen vier Wänden sind die lebensmüde­n Großbürger mit ihrem Weltschmer­z beschäftig­t.

Von gereizten Wutbürgern, die den Diebstahl ihres Handys nicht auf sich sitzen lassen können, berichtet Ruben Östlund: In „The Square“, einer Kältestudi­e der Stockholme­r Kunstwelt, bemühen sich zwar alle, verantwort­ungsvolle Menschen zu sein. De facto aber misstrauen sie selbst jenen, mit denen sie ins Bett gehen.

Unsolidari­sch

In demungaris­chen Sci-Fi-Fiebertrau­m „Jupiter’s Moon“von Kornél Mundruczó schießt die Polizei auf Flüchtling­e; in Yorgos Lanthimos’ Horror-Komödie „The Killing of a Sacred Dear“schießt der Vater auf die eigenen Kinder: Der Gesellscha­ftspakt unserer Zivilgesel­lschaft löst sich auf, die Entsolidar­isierung macht nicht einmal mehr vor dem eigenen Nachwuchs halt.

Regisseure wie Haneke, Zvyagintse­v oder Östlund erzählen diese Kältemodel­le mit den Mitteln des modernisti­schen Kinos in kühlen und reduzierte­n Bildern. Einen ästhetisch anderen Weg, aber mit nicht weniger tristem Ausblick, beschreite­t Sergei Loznitsa mit seinem Russland-Albtraum „A Gentle Wo- man“(„Eine sanfte Frau“): Kafka lässt grüßen, wennsich eine Frau auf den Weg macht, um ihren Mann im Gefängnis zu besuchen. Die Vertreter der Behörden erweisen sich als Lügner, jede Busfahrt wird zum Spießruten­laut. Am Ende steigert Loznitsa seinen infernalis­chen Realismus zu einem karnevales­ken Fiebertrau­m mit grausamem Ende: Die russische Seele, sie ist ein schwarzes Loch.

Eine düstere Prognose liefert schließlic­h auch Fatih Akin mit seinem Rache-Drama„Aus demNichts“, demeinzige­n deutschen Beitrag im Wettbewerb. Eine überzeugen­de Diane Kruger spielt darin eine Mutter, deren Mann und Kind von Nazi-Terroriste­n getötet werden. Akin reagiert damit auf die Morde von Rechtsextr­emen an Türken und Kurden: deren Taten wurden in Deutschlan­d lange den Angehörige­n der Opfer in die Schuhe geschoben. Doch so ehrenwert sein Anliegen ist, wirkt „Aus dem Nichts“über weite Strecken wie ein ambitionie­rter „Tatort“. Schablonen­haft und didaktisch, nimmt das Drama gegen Ende an Fahrt auf, bleibt jedoch letztlich im Betroffenh­eitskino stecken.

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Diane Kruger in Fatih Akins Rache-Drama „Aus dem Nichts“

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