„Statt mit einer Stimme, könnte mman mit zehn Punkten wählen“
Die großen Volksparteien stecken in der Krise. Die Bürger wenden sich ab und werden zu Protestwählern. Wie man die Politikverdrossenheit lindern kann, beantwortet Politologe Peter Filzmaier.
Wenn es um die Analyse von Wahlergebnissen geht, dann hat ein Mann hierzulande die Interpretationshoheit. Der Politologe und ORF- Kommentator Peter Filzmaier.
Im Interview erklärt er im Zuge der KURIER-Serie, warum die Parteien in der Krise stecken und wie man die parlamentarische Demokratie wieder attraktiv machen könnte – etwa mit einem neuen Wahlsystem. KURIER: Herr Filzmaier, wir erleben derzeit eine Parteiendämmerung. Warum finden die ehemals großen Volksparteien keine Antwort mehr auf die heutigen Konflikte innerhalb der Gesellschaft? Peter Filzmaier: Wir haben ein Parteiensystem, das wunderbar zu den Frühzeiten der Zweiten Republik passte. Früher war es für die großen Volksparteien leicht, alle Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Da gab es die Arbeitnehmer, den Unternehmer, die Bauern und die Nichterwerbstätigen. Das war es im Prinzip. Heute stellt sich vieles differenzierter dar. Es gibt viele Beschäftigungsmodelle. Kombinationen aus erwerbstätig und nichterwerbstätig, Teilzeitbeschäftigte etc. Dieses Spektrum können Parteien nicht mehr abdecken. Ein neuer Trend sind Politiker wie Emmanuel Macron oder Donald Trump. Die beiden verbindet politisch zwar nichts, aber sie waren bei der Wahl für viele Menschen Hoffnungsträger. Werden Persönlichkeiten künftig wichtiger als Parteien?
Prinzipiell wäre mehr Parteienvielfalt oder ein neuer Politikertypus positiv zu bewerten. Die Schlüsselfrage ist nur: Ist das ein nachhaltiger Trend oder genügt es kurz- und mittelfristig, irgendwie anders zu sein, weil die Verdrossenheit mit den etablierten Politikstrukturen derart groß ist. Die Gemeinsamkeiten zwischen Macron und Trump oder zwischen Beppe Grillo in Italien und der AfD in Deutschland sind oft gegen null gehend. Das Einzige, was sie eint, ist das Anderssein und gegen das Etablierte oder die Eliten zu sein. Wenn es dabei bleibt, wäre es traurig und demokratiepolitisch auch gefährlich. Werden wir in Zukunft vermehrt von Demagogen regiert?
Ich würde es so sagen: Von einer anderen Form der Rhetoriker. Denn wir erleben eine Spirale in der Mediendemokratie. Sie passiert in einer Geschwindigkeit, die man sich vor ein paar Jahren gar nicht vorstellen konnte. Das bedingt nicht eine bessere oder schlechtere Logik der politischen Rhetorik, sondern einfach ganz eine andere. Es haben schon Cicero und Aristoteles gesagt: Rhetorik ist immer eine Mischung aus Sachargumenten und Inszenierung. Das Kriterium ist, dass man ein Minimalmaß an Sachlichkeit nicht unterschreitet und ein Maximalausmaß an Inszenierung nicht überschreitet. Christian Kern hat gesagt: 95 Prozent sind in der Politik Inszenierung. Wäre das nach Cicero und Aristoteles zu viel?
Cicero und Artistoteles nennen keine Zahlen. Aber fünf Prozent Sachlichkeit haben sie sich sicher nicht vorgestellt. Es gab sogar Phasen, wo die Spindoktoren glaubten, man kann das zu 99,9 Prozent ausreizen. Da ist der Höhepunkt zum Glück schon überschritten. Dass sich Politiker nur mit Homestorys, beim Ausüben von Trendsportarten zeigen, ist rückläufig. Auch wenn Kanzler Kern damit gerade wieder beginnt.
Stichwort: Fakenews. Wie wird die Digitalisierung die Demokratie verändern?
Die unglaubliche Beschleunigung der Kommunikation durch die neuen Medien ist zwar im Sinne der Vielfalt positiv. Aber es gibt einen Wermutstropfen: Keiner hat darüber nachgedacht, wie man die Mediennutzungskompetenz der Bürger erhöhen kann. Wenn ich jetzt lese, dass gegen „Hass im Netz“eine Kampagne gefahren wird, dann frage ich mich: Warum erst jetzt? Denn Hasspostings gibt es, seit die ersten Diskussionsforen entstanden sind und das war 1992. Auch bei der Medienbildung, die notwendig wäre, damit Mediennutzer Demagogie im Netz erkennen, hat man Jahrzehnte verschlafen. Diese Versäumnisse kann man nur mit einer Verhundertfachung der Ressourcen bei der Medienbildung, sowohl in den Schulen, aber vor allem auch in der Erwachsenenbildung aufholen. Die Erwachsenenbildung ist für mich in diesem Punkt sehr essenziell. Die Wähler stehen oft vor dem Dilemma, dass sie sich von keinem der Spitzenkandidaten vertreten fühlen. Meistens wählt man dann das kleinere Übel. Existieren auf den Unis oder in den Thinktanks ganz neue Ideen für das Wahlrecht?
Bei uns haben das erste Mal die Alarmglocken bei der Untersuchung der Wahlmotive zur Nationalratswahl 2013 geläutet. Da hat eine Zweidrittelmehrheit gemeint, die Parteien kümmern sich nicht mehr um die Angelegenheiten der Wähler. Derzeit haben wir ein Wahlrecht, wo man eine Partei mit allen Inhalten, Strukturen und Kandidaten zu 100 Prozent und alle anderen Parteien zu null Prozent wählen muss. Dieses System entspricht aber nicht mehr unserer dynamischen Wählerwelt. Jeder Wechselwähler wird sagen, ich kann nicht eine Partei wählen, komme was da wolle. Daher gibt es einen neuen Ansatz für das Wahlrecht: Warum sollen Wähler nicht zehn Punkte vergeben können. Entweder gibt man einer Partei alle zehn Punkte, aber man kann die Punkte auch auf zwei, drei oder vier Parteien aufteilen. Wir haben dieses Modell auf der Uni Graz getestet. Die Frage war: Sind die Menschen dann zufriedener mit ihrer Wahl? Hier war das Ergebnis „Ja“. Die direkte Demokratie wird gerne als Mittel gegen die Politikverdrossenheit ins Treffen geführt. Kann direkte Demokratie das Interesse steigern?
Ja, auch. Wobei das Schlüsselwort „auch“ist. Als Politologe habe ich das Problem, dass man aus dem Verfassungsgefüge immer ein Puzzleteil herausnimmt und dann diskutiert man, ob mehr direkte Demokratie sinnvoll wäre oder nicht. Das Problem ist, nimmt man nur einen Teil heraus, stimmt das ganze Puzzlegefüge nicht mehr. Dann hat man mehr Schaden angerichtet als Nutzen. Abgesehen davon, wür- de mehr direkte Demokratie die Politikverdrossenheit minimieren. Denn die ursprüngliche Skepsis gegenüber diesem Modell, ist heute nicht mehr zeitgemäß. In den Entstehungsjahren der Zweiten Republik mit über 700.000 ehemaligen NSDAPMitgliedern und einer Jugend, die durch Nazi-Schulen gegangen ist, hielt man die direkte Demokratie verständlicherweise für keine gute Idee. Nur: Dieses Problem besteht jetzt nicht mehr. Daher kann man die direkte Demokratie nun stärken. Aber: Mehr direkte Demokratie ist wertlos, wenn ich nicht gleichzeitig die Medienbildung und die politische Bildung forciere. Passiert das nicht, dann hat man nur ein Feigenblatt geschaffen, was möglicherweise wieder nur etablierten Parteien nützt. Trauen Sie einem Spitzenkandidaten bei der Neuwahl einen Macron-Effekt zu?
Sebastian Kurz versucht das als Image-Strategie zu machen, obwohl es inhaltlich nicht stimmt. Denn Macron ist aus der Partei ausgetreten und das wollte Kurz ja nicht tun. Klar, kann ich mich als traditionelle Partei reformieren und muss mich nicht gleich auflösen. Aber dann muss ich mich wirklich reformieren und nicht mit Placebos. Aber viel wichtiger als die Frage, wer am 15. Oktober als Erster über die Ziellinie geht, ist die Frage: Was passiert in den fünf Jahren danach? Da brauchen wir ein Demokratielabor für die zweite Jahreshälfte 2018. Am Ende muss ein Verfassungskonvent stehen, um die neuen Spielregeln für die Demokratie auch niederzuschreiben. Welche Ziele sollte das Demokratielabor haben?
Mir gefällt der Ausdruck Demokratielabor deswegen sehr gut, weil es nicht nur darum gehen darf, die Parteien und das Wahlrecht zu reformieren. Man muss zusätzlich sehr genau überlegen, was kann ich im Bereich Medienbildung und politische Bildung verbessern, um die Bürger mehr ins Boot zu holen. Kann eine reformierte Demokratie fähig sein, mit den Problemen der heutigen differenzierten Gesellschaft fertigzuwerden?
Ja, aber sie muss sich laufend ändern. Ad hoc müsste man das Parlament stärken. Denn warum ist das Parlament von Regierungsvorlagen abhängig? Für die Regierung gibt es einen extrem großen Expertenstab um Gesetze vorzubereiten, aber das Parlament hat nicht einmal einen wissenschaftlichen Dienst. In Kombination zur Stärkung des Parlaments muss die Direktdemokratie verstärkt werden. Auch die Ressourcen der Landtage müssen unbedingt gestärkt werden. Warum wäre es wichtig, dass die regionalen Parlamente künftig wichtiger werden im Vergleich zum Nationalparlament? Tirol hat ein Transitproblem, aber nicht das Burgenland.