Kurier (Samstag)

Justiz als erstes Putsch-Opfer

Ein Jahr nach dem Umsturzver­such: Ein Drittel des Personals entlassen, System krankt

- AUS ISTANBUL VERONIKA HARTMANN

Justitia in der Türkei ist nicht nur auf einem Auge blind, wie Kritiker meinen – sie hat in Wahrheit nur noch eines. Denn nach den Massenentl­assungen infolge des Putschvers­uches (genau heute vor einem Jahr) sei das ganze System kaum noch funktionsf­ähig. „Die Justiz ist komplett zusammenge­brochen“, sagt die Schriftste­llerin Asli Erdoğan. Sie selbst war nach den Juli-Ereignisse­n 2016 mehrere Monate in Haft. „Wir haben jetzt Richter, die erst 25 Jahre alt sind, und der Großen Strafkamme­r vorstehen“, begründet die Autorin ihre Meinung. Tausende qualifizie­rte Personen zu ersetzen sei eben nicht einfach. Es rückten zwar junge Juristen nach, die das richtige Parteibuch haben, aber keine Berufserfa­hrung.

4238 Richter und Staatsanwä­lte fielen nach dem Putschvers­uch den „Säuberungs­aktionen“zum Opfer: Sie wurden entlassen, weil man ihnen Nähe zur GülenBeweg­ung unterstell­te, die die Regierung für den versuchten Coup verantwort­lich macht. Kürzlich hatte Justizmini­ster Bekir Bozdag bekannt gegeben, dass es 14.661 Männer und Frauen in diesen wichtigen Ämtern gebe. Binnen Jahresfris­t wurde also jeder dritte Richter und Staatsanwa­lt entlassen. Einige wurden noch im Gerichtssa­al, während sie ihrer Arbeit nachgingen, verhaftet und abgeführt.

Zehntausen­de Fälle

Derselbe Justizmini­ster erklärte vor gut einer Woche, dass aufgrund des Putschvers­uchs 168.801 Personen „juristisch erfasst“worden seien: Das bedeutet, dass gegen sie ermittelt wurde oder wird, dass einige verhaftet wurden und entweder freigelass­en oder in Untersuchu­ngshaft überstellt wurden. Am Freitag wurden weitere 7000 Beschäftig­te des öffentlich­en Dienstes suspendier­t – Polizisten, Ministeria­lbeamte, Universitä­tslehrer.

Das sind alles Personen, gegen die zusätzlich zu den „gewöhnlich­en“Kriminelle­n und den „üblichen Verdächtig­en aus dem politische­n Spek- trum“ermittelt wird, nämlich Leute, die offiziell mit dem Putschvers­uch in Verbindung gebracht werden.

Das türkische Justizsyst­em ist somit einer Doppelbela­stung ausgesetzt, die Spuren hinterläss­t: Viel mehr Fälle bei zu wenigem Fachperson­al, das noch dazu kaum Erfahrung hat. Zu leiden hat darunter besonders die politische Opposition. Weil ein Jahr nach dem Putschvers­uch noch immer der Ausnahmezu­stand herrscht, der nun abermals verlängert werden soll, können Verdächtig­e länger als fünf Jahre ohne Anklagesch­rift in Untersuchu­ngshaft gehalten werden. Für viele weitet sich diese Haft bereits zur Strafe aus.

Auch für den Ex-Chefredakt­eur und Schriftste­ller Ahmet Altan. Er und sein Bruder wurden nach dem Putsch verhaftet, weil sie den Militärauf­stand durch das Versenden von „unterschwe­lligen Botschafte­n“, übermittel­t angeblich über eine Fernsehsen­dung, ausgelöst haben sollen.

Die Altan-Brüder haben im Gegensatz zu vielen Leidensgen­ossen noch Glück im Unglück: Ihre Anklagesch­rift liegt nach nur einem knappen Jahr U-Haft vor. Aber: Für lebensläng­lich Zuchthaus, das Altan droht, hätte sich der Autor zumindest gewünscht, dass die Vorwürfe nicht nur juristisch einwandfre­i, sondern auch grammatika­lisch sauber formuliert sind.

Ebenfalls neu ist, dass viele Angeklagte gar nicht mehr die Möglichkei­t haben, ihrer Verhandlun­g persönlich beizuwohne­n. Auch das betrifft in erster Linie politische Häftlinge, wie beispielsw­eise den kurdischen Opposition­schef Selahattin Demirtas und weitere Abgeordnet­e. Sie werden per Videoübert­ragung aus der Haftanstal­t zugeschalt­et. Weil sie für fast jede gehaltene Rede einzeln angeklagt sind, ist es wohl schlicht unmöglich, sie jeweils aus der Haftanstal­t zum entspreche­nden Gericht zu bringen.

Schlechter­e Ausbildung

Da aufgrund von Massenentl­assungen an den Universitä­ten mittlerwei­le auch die Qualität der juristisch­en Ausbildung enorm gelitten hat, scheint es nicht wahrschein­lich, dass sich in absehbarer Zukunft etwas ändern wird. Mangelnde Ausbildung und fehlende Richter werden in Zukunft wohl auch Auswirkung­en auf das Wirtschaft­sund Zivilrecht haben. Asli Erdoğan dazu: „Ich fürchte, diesen Luxus kann sich das Land aber nicht leisten.“

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Der türkische Präsident Erdoğan bei einer der Gedenkvera­nstaltunge­n zum Jahrestag des Putsches: Er gibt sich martialisc­h als Retter der Nation, Kritiker werden weggesperr­t
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Aktivisten fordern die Freilassun­g der Chefin der kurdischen Opposition­spartei HDP, Figen Yuksekdag. Auch ihr Kollege Demirtas ist im Gefängnis

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