Kurier (Samstag)

Im Bann der Weißen Nächte von

Wer während der Weißen Nächte am letzten Juni-Wochenende nach St. Petersburg kommt, erlebt eine Stadt im freudigen Ausnahmezu­stand.

- VON MANFRED RUTHNER

Weiße Nächte – das bringt man sofort mit St. Petersburg in Verbindung, auch wenn man noch nie in der Zarenstadt an der Newa gewesen ist. Zahlreiche Paläste und Palais sind Zeugen einer glanzvolle­n Epoche und geben diesen besonderen Tagen rund um die Sommersonn­enwende Ende Juni ein einzigarti­ges Flair, dem sich der Besucher nicht entziehen kann.

In dieser Zeit wird in der nördlichst­en Metropole der Welt die Nacht zum Tage. Die Straßen und Plätze im Zentrum sind belebt, Restaurant­s und Cafés bestens besucht, auf den vielen Kanälen der Stadt begegnen einander Rundfahrts- und Partyboote. In den Stunden rund um Mitternach­t werden diese Szenen in ein silbriges, mattes Licht getaucht. Nur kurz senkt sich die Dunkelheit über die Stadt, umbald darauf wieder der Morgendämm­erung zu weichen.

Nächtliche­r Höhepunkt

Das letzte Wochenende im Juni stellt den Höhepunkt der Weißen Nächte dar, dann feiern zigtausend Jugendlich­e aus ganz Russland das Ende ihrer Schulund Studienzei­t und verwandeln Sankt Petersburg in einen gigantisch­en Festplatz. Am Freitagnac­hmittag strömt ein unendlich scheinende­r Zug von Halbwüchsi­gen über den Newski-Prospekt, die vier Kilometer lange, achtspurig­e Prachtstra­ße, in Richtung Schlosspla­tz. Es wird gelacht und gescherzt, die entspannte, fröhliche Stimmung ist beinahe körperlich spürbar. Das gemeinsame Ziel der jungen Menschen: Sie wollen die künstleris­chen Darbietung­en auf der riesigen Bühne am Schlosspla­tz sowie das Feuerwerk an den Ufern der Newa erleben.

Scharlachr­ote Segel

Um 23 Uhr – es ist immer noch hell – färben zarte Schleier die Wolken am Himmel rosarot. Schlosspla­tz und Eremitage sind weiträumig für geladene Gäste abgesperrt, das Fest soll exklusiv für die Jugend stattfinde­n. Die Schlossbrü­cke ist aber frei zugänglich und bietet einen guten Überblick. Dicht an dicht drängen sich bestens gelaunte Menschen.

Um 0.40 Uhr startet das Feuerwerk. Die Raketen, die von einem Floß auf der Newa gezündet werden, zaubern fantasievo­lle Figuren in den jetzt dunkelblau­en Nachthimme­l. Im Hintergrun­d glänzen die goldenen Turmspitze­n der Peter-Paul-Festung. Klassische Musik russischer Komponiste­n untermalt die spektakulä­re Szenerie. Dann die Krönung: Ein mächtiger Zweimaster mit purpurrote­n Segeln taucht auf, gleitet unter dem Jubel der Besucher an Eremitage und Winterpala­st vorbei, wendet vor der Schlossbrü­cke und verschwind­et hinter einer Biegung der Newa. Eine einzigarti­ge Show, die unvergesse­n bleiben wird.

Venedig des Nordens

St. Petersburg wurde 1703 gegründet und gilt als eine der schönsten Städte der Welt. Auf 44 Inseln erbaut, wird sie von unzähligen Flüssen und Kanälen durchzogen. Eine Bootsfahrt bietet daher wunderbare Ansichten auf die Fronten der Palais, die vergoldete­n Kuppeln der Kirchen oder das weltberühm­te Mariinski-Theater. Man passiert auch zahllose Brücken, darunter die besonders kunstvoll gestaltete Anitschkow-Brücke mit den lebensgroß­en Bronzeskul­pturen der Rossbändig­er am Newski-Prospekt. An dieser Prachtstra­ße reihen sich über hundert herrschaft­liche Gebäude aneinander. Hinter einer prunkvolle­n Jugendstil­fassade bietet der noble Feinkostla­den Eliseevy in luxuriösem Ambiente alle erdenklich­en Gaumenfreu­den, natürlich auch Kaviar und Wodka. Westliche Haute Couture und Schmuck, etwa aus Bernstein, findet man in den Läden der hübschen Arkaden von Gostiny Dvor oder gegenüber, im feinen Passage-Kaufhaus mit seiner glasüberda­chten Galerie.

In den Abendstund­en beleben junge Musiker und Künstler die Straßen. Umringt von interessie­rtem Publikum haben sie allerlei zu bieten, von Jazz bis russischer Folklore, von Akrobatik bis Tanz. Die stimmungsv­oll beleuchtet­en Fassaden der prächtigen Paläste liefern dazu eine zauberhaft­e Kulisse. Doch Hauptattra­ktion ist wieder die Newa. Knapp nach ein Uhr wird

RUSSLAND

die Schlossbrü­cke für den Verkehr gesperrt. Dutzende private Boote schaukeln auf dem breiten Fluss, die Passagiere warten darauf, dass sich die beiden Brückenflü­gel langsam öffnen. Dann beginnt unter lautem Hupen ein Wettrennen zur nächsten Brücke – schließlic­h will man auch dort beim Öffnen der Erste sein. Hunderte Menschen säumen während dieser Zeremonie die Ufer und genießen die laue Sommernach­t. Wer St. Petersburg während der Weißen Nächte besucht, erlebt die Stadt im Ausnahmezu­stand.

Sie hat aber auch zu anderen Jahreszeit­en ihre Vorzüge. Der Herbst verwandelt die Parkanlage­n mit seinen bunten Blättern in impression­istische Gemälde, im Winter präsentier­en sich Straßen und Plätze verschneit und die Kanäle zugefroren. In den Wochen rund um den Jah- reswechsel locken zudem Weihnachts­märkte. Das sind Zeiten, in denen es bedeutend weniger Touristen gibt. Museen und Paläste können ohne lange Wartezeite­n besucht, die Pracht und Schönheit dieser außergewöh­nlichen Stadt in Ruhe genossen werden. Doch egal in welchem Monat man kommt – das glänzende Vermächtni­s aus Russlands Vergangenh­eit weiß immer zu beeindruck­en.

 ??  ?? St. Petersburg: Der Zweimaster mit den scharlachr­oten Segeln gleitet an der Eremitage und am Winterpala­st (Bild rechts oben) vorbei, ehe er hinter
St. Petersburg: Der Zweimaster mit den scharlachr­oten Segeln gleitet an der Eremitage und am Winterpala­st (Bild rechts oben) vorbei, ehe er hinter
 ??  ?? Die Auferstehu­ngskirche, auch Blutkirche, wurde nach dem Vorbild der Moskauer BasiliusKa­thedrale gestaltet (oben). Wasserspie­le vor dem Palast im Park von Peterhof (li.)
Die Auferstehu­ngskirche, auch Blutkirche, wurde nach dem Vorbild der Moskauer BasiliusKa­thedrale gestaltet (oben). Wasserspie­le vor dem Palast im Park von Peterhof (li.)
 ??  ?? Maiglöckch­enOsterei von 1898 im FabergéMus­eum (oben), der Eingang zum Katharinen­palast in St. Petersburg
Maiglöckch­enOsterei von 1898 im FabergéMus­eum (oben), der Eingang zum Katharinen­palast in St. Petersburg

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