Kurier (Samstag)

„Wahlaufheb­ung heilsamer Schock“

Verfassung­sgerichtsh­ofs-Präsidenti­n über Hofburgwah­l, zu lange Verfahren und Frauenquot­e

- VON CHRISTIAN BÖHMER

KURIER: Frau Präsidenti­n, Ihr Vorgänger hat gesagt, der VfGH müsse unbequem sein. Wie unbequem wollen Sie’s anlegen? Brigitte Bierlein: Der Verfassung­sgerichtsh­of ist tatsächlic­h nicht dazu da, um bequem zu sein. Egal, welches Thema an uns herangetra­gen wird, ob die Ehe für alle oder die Mindestsic­herung: Wir können uns nicht entschlage­n, der Verfassung­sgerichtsh­of hat zu entscheide­n. Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, sich auch zu gesellscha­ftspolitis­chen Fragen zu äußern?

Unsere primäre Aufgabe ist die Beantwortu­ng von Rechtsfrag­en. Ich würde meine Stimme erheben, wenn wie in Polen oder der Türkei der Rechtsstaa­t oder die Demokratie in Gefahr sind. Aber das sehe ich – Gott sei dank – in Österreich derzeit überhaupt nicht. Sind Sie mit Ausstattun­g und Budget des VfGH zufrieden?

Wir haben zwei juristisch­e Planposten dazubekomm­en, in absoluten BudgetZahl­en aber verloren. Parallel dazu hat die Zahl der Fälle unglaublic­h zugenommen, konkret um 30 Prozent auf 5047 Fälle pro Jahr. Unsere Richter und Mitarbeite­r sind sehr belastbar und arbeiten mit Freude. Aber wir sind am Limit. Derzeit dauern Verfahren am VfGH im Schnitt 4,5 Monate. Wird das so bleiben?

Im internatio­nalen Vergleich sind wir ausgezeich­net unterwegs. Steigt die Last aber weiter, werden die 4,5 Monate schwer zu halten sein. Wäre es eine Alternativ­e, das Richter-Gremium zu teilen? Auch in Deutschlan­d arbeiten zwei Kammern parallel.

Ich persönlich halte wenig davon, eine zweite Kammer einzuricht­en. Es bestünde die Gefahr, dass in vergleichb­aren Fällen unterschie­dlich entschiede­n wird. Der Verfassung­sgerichtsh­of ist auch Schlichtun­gsstelle des Parlaments. Ist Ihnen wohl dabei?

Dass wir beim U-Ausschuss zur Schlichtun­gsstelle wurden, birgt die Gefahr, in die Tagespolit­ik hineingezo­gen zu werden. Trotzdem sind diese Streitfrag­en beim VfGH immer noch am besten aufgehoben. Bisweilen wird dem VfGH ja vorgeworfe­n, er entscheide ideologisc­h oder parteilich...

Ein Verfassung­sgericht ist immer ein Grenz-Organ, das sich zwischen Politik und Recht bewegt, und die Vorschläge, wer als Mitglied an den Gerichtsho­f kommt, stammen von politische­n Gremien. Allerdings sind die Richter, sobald sie hier sind, völlig unabhängig. Ich kann Ihnen aufgrund des Amtsgeheim­nisses nicht mehr dazu sagen, aber: Sie würden sich wundern, wie angeblich konservati­ve oder liberale Kollegen tatsächlic­h abstimmen. Das heißt, Sie sind dagegen, dass das Stimmverha­lten der Richter veröffentl­icht wird?

Ich halte nichts von der so genannten Dissenting Opinion, weiß aber, dass es auch am Gerichtsho­f andere Meinungen gibt. Für die Einheit des Gerichts ist das aktuelle System meines Erachtens nach besser. Wird das Stimmverha­lten der einzelnen Richter öffentlich, setzt man sie einem Druck aus, der nicht nötig ist. Dieser Druck würde zusätzlich steigen, wenn sie auf eine Wiederbest­ellung hoffen müssten. Ich halte unser System, bei dem VfGHRichte­r bis zum 70. Lebensjahr bestellt sind, für ideal. Einige Verfassung­srichter üben nebenbei einen Zivilberuf aus. Wie passt das zur erwähnten Arbeitslas­t?

Als dieses System entwickelt wurde, wollte man, dass die Höchstrich­ter über den Tellerrand schauen. RichterKol­legen, die als Rechtsanwä­lte arbeiten, sind mit verschiede­nsten Vorschrift­en in der täglichen Praxis konfrontie­rt. Auch die Universitä­tsprofesso­ren bringen eine eigene Sicht der Dinge ein. Der Zweitberuf hindert die Richter nicht an der guten Arbeit im Gerichtsho­f, im Gegenteil: Er bietet einen unglaublic­hen Mehrwert. Sie sind die erste weibliche VfGH-Präsidenti­n, insgesamt hat sich der Frauenante­il aber verringert. Schmerzt das?

Der Rückgang der Frauenquot­e ist tatsächlic­h bedauerlic­h, zumal der VfGH überhaupt spät dran war. Das erste weibliche Mitglied gab es erst 1994. Woran liegt das?

Sicher nicht an der Qualifikat­ion, es gibt hervorrage­nde Kandidatin­nen. Allerdings haben sich diesmal auffallend wenige Frauen für die Richterpos­ten bewor

 ??  ?? VfGH-Präsidenti­n Brigitte Bierlein: „Unsere Richter und Mitarbeite­r sind sehr belastbar und arbeiten mit Freude. Aber wir sind am Limit“
VfGH-Präsidenti­n Brigitte Bierlein: „Unsere Richter und Mitarbeite­r sind sehr belastbar und arbeiten mit Freude. Aber wir sind am Limit“

Newspapers in German

Newspapers from Austria