Müssen Künstler grausam sein?
Sein Roman „Die Gesichter“ist Satire, Vater-Sohn-Drama und erneut kein Leichtgewicht BÜCHER
Der Maler, ein Expressionist, heißt Bear Bavinsky. Berühmt wurde er wegen seiner Darstellung weiblicher Körperteile, z.B. ein Schenkel Nr 7 oder linke Brust Nr. 3.Gesichter malte er nie.
Picasso hat ihn rausgeschmissen, weil es Bavinsky wagte, seine weiße Taube zu streicheln.
Der Amerikaner und der Spanier waren einst Konkurrenten. Künstlerisch – und menschlich: Wer ist das größere ... wer ist egoistischer?
Ausbeuteln
Kaum hat man mit Tom Rachmans „Die Gesichter“begonnen, will man Bear Bavinsky googeln. Wie sehen die Brüste aus? Wieso hat man nie etwas von ihm gehört?
Weil er eine Erfindung ist. Weil es ihn nur in Tom Rachmans Buch gibt. Aber Bavinsky (= mindestens 17 Kinder) steht wohl für „echte“Maler.
Angeblich ließ sich der britisch-kanadische Schriftsteller, der jahrelang Auslandskorrespondent der Associated Press war, vor allem vom Maler Lucien Freud (= mindestens 14 Kinder) inspirieren.
In Interviews stellt Rachman gern die These auf: Niemand will einen Künstler, der sich zu benehmen weiß.
„Die Gesichter“ist eine Satire auf den Kunstbetrieb. Wobei angemerkt wird, Gegenwartskunst selbst sei die Satire:
Wenn eine Putzfrau nicht weiß, ob sie „die Installation“wegwischen und ausbeuteln soll, ist die Kunst – Mist.
„Die Gesichter“ist Satire auf Künstler, die auf die Menschen, auf ihre menschlichen Schöpfungen, vergessen und ganz im Ernst verkünden: „Meine Bilder sind meine Kinder – sie sind alles, was ich habe“(Bavinsky).
Vergöttert
Und Rachmans Roman ist nicht zuletzt Drama eines Sohnes, der im Schatten des Vaters kaum wachsen kann.
Als Charles klein war, in den 1950er-Jahren, hat er seine Mutter (dritte Ehefrau Ba- vinskys) nicht verstanden, die traurig murmelte: „Nicht ein einziges Mal...“
Es bedeutete: Nicht ein einziges Mal wird von ihr geredet. Keramikkünstlerin war sie. Sie zerbrach an ihrem Bear.
Und als Charles ebenfalls malt, gelobt von der Mutter, aber vom Alten zu hören bekommt: „Haha, ein Künstler wirst du nie!“– da verachtet der junge Mann sich selbst und seine Mutter, und er liebt den fiesen Vater weiterhin abgöttisch.
Das geht beim Lesen sehr zu Herzen.
Der verblüffende Schluss macht das Herz leichter.
Mächtig
„Die Gesichter“ist Tom Rachmanns dritter gelungener Roman. Sein Debüt 2013 hieß „Die Unperfekten“: Denkmal für die gute alte Zeitung, die zusperrt.
Mit „Aufstieg undFall großer Mächte“meinte er jene Macht, auf die man im Leben nicht verzichten kann. Das kann durchaus ein Schach spielender, philosophierender Gammler sein.
Rachman hat auch jetzt wieder vorgetäuscht, nur ein Leichtgewicht zu sein. „Im zeitigen Frühjahr 1946 kam eine unbekannte Kohlmeise mit ihrem Partner herüber ...“Klingt schön: eine unbekannte Kohlmeise. Len Howard, die in Waldnähe in einem Haus in Südengland lebte und Vögel studierte, war mit Dutzenden Meisen und Amseln gut bekannt.
Die Unbekannte hatte einen weißen Fleck auf der Stirn und wurde deshalb „Sternchen“genannt. Als „Sternchens“Partner starb, warf sie ein Auge auf „Glatzköpfchen“... der allerdings schon eine Partnerin hatte, nämlich Monokel (ihr linkes Auge war weiß eingefasst).
Die in Vergessenheit geratene Forscherin ( 1973) bekommt im Roman der Niederländerin Eva Meijer „Das Vogelhaus“neues Leben. Man staunt: Len Howard klopfte aufs Fenster, 1, 2, 5 ... und „Sternchen“klopfte nach. Bis acht lernte sie zu zählen.
Das ist die eine Antwort auf die Frage: Wieso berühren uns Vögel so sehr?
Die andere ist das Buch „Vögel ganz nah“. In Texten und wunderbaren Fotos stellen drei Schweden ganz normale – keine exotischen – Vö- gel vor, denn die sind „besonders“genug. Etwa die Amsel (der allerbeste Komponist), die Blaumeise (ein kleiner Terrier mit Federn), der Haussperling = ein Alltagsheld usw. Man könnte beim Lesen und Schauen (einen) zwischern vor Freude. Wenn im nächsten Frühjahr wieder alle da sind und singen, wenn sie es wieder geschafft haben, dann dreht sich die Erde noch, hurra.