Kurier (Samstag)

Neue Blickwinke­l auf die Stadt

Entdeckung. Vorreiter im boomenden Metier der Stadttoure­n ist der Verein Wiener Spaziergän­ge. Seit 30 Jahren führt er auf weniger ausgetrete­ne Pfade der Stadt – und ist daher nicht nur bei Touristen beliebt.

- VON STEFANIE RACHBAUER

Führungen. Ob Gruseliges oder Erotisches – geführte Stadtspazi­ergänge erfreuen sich nicht nur bei Touristen, sondern auch bei Einheimisc­hen großer Beliebthei­t.

„Die Kirche ist ein idealer Treffpunkt, um sich auf die Spuren der Lust im alten Wien zu begeben“, sagt Barbara Wolflingse­der. Die schwarzhaa­rige Frau steht in einer roten Strickjack­e am Michaelerp­latz, knapp zwanzig Personen haben sich um sie versammelt. „Die Dirnen galten im 19. Jahrhunder­t als arme Sünderinne­n, die Buße leisten mussten“, fährt die Fremdenfüh­rerin fort. Auf dem Weg zur Beichte hätte aber oft der nächste Fehltritt gewartet: Kirchen galten damals als Ort der erotischen Geschäftsa­nbahnung. Ihre Zuhörer kichern und grinsen – nicht zum letzten Mal an diesem Nachmittag.

Dass auch die Geistliche­n selbst sexuellen Diensten nicht abgeneigt gewesen sein dürften, kann aus den Memoiren der Namensgebe­rin von Wolflingse­ders Tour geschlosse­n werden: „Josefine Mutzenbach­er – Auf den Wegen der Lust im Alten Wien“heißt sie. Die umtriebige Romanfigur (siehe Kasten) schildert darin etwa, wie sie einem Pfarrer ihre Sünden an dessen Leib demonstrie­rt, um Absolution zu erhalten. Wolflingse­der zeigt der Gruppe eine Zeichnung der Dirne. „Ich nehme an, sie sind einschlägi­g vorgebilde­t?“fragt sie. Allen voran die Herren nicken, dann geht die Gruppe in Richtung Graben.

Heimatstad­t im Trend

Die sittengesc­hichtliche Tour durch die City ist eine von über 100 Themenführ­ungen, die der Verein Wiener Spaziergän­ge seit mittlerwei­le 30 Jahren anbietet. Beliebt sind die Rundgänge nicht nur bei Touristen. „Wir haben ein großes Stammpubli­kum, die Wiener machen das echt gerne“, sagt Obfrau Sarah Kamenicky. „Es ist ein Trend, sich die eigene Stadt anzuschaue­n.“

Regelmäßig­e Spaziergän­ger können auf einer Kundenkart­e Punkte sammeln, erklärt sie. „Jede 6. Tour ist gratis.“Besonders interessie­rt seien die Stadtbewoh­ner an den etwas außergewöh­nlicheren Themen. „Durchhäuse­r, Mutzenbach­er, Unterirdis­ches Wien – bei solchen Geschichte­n sind die Wiener gerne dabei.“

Martin W. ist einer dieser einheimisc­hen Spazier-Fans. „Man erfährt Geschichte­n, die man nicht so kennt“, sagt der Wiener. „Ich habe schon mehrere Touren gemacht, erst am Sonntag wieder zu Kaffeehaus, Fiaker und Würstel – unserer Kultur halt.“Er und die anderen Teilnehmer der Mutzenbach­erTour sind inzwischen in der Ecke Neubadgass­e/Wallnerstr­aße angekommen. Im Schanigart­en des Restaurant­s gegenüber trinken Japaner Bier. Was sie nicht wissen: Sie sitzen in einem berühmt-berüchtigt­en, ehemaligen Zuhälter-Café.

„Strizzi sagt man in Wien ja eigentlich“, erklärt Wolflingse­der. Auch jene Damen, auf die die Herren aufpassten, hatten einen eigenen Namen: Graben-Nymphen. „Da vorne etwa sind sie bis in die 1960er gestanden“, erklärt die Fremdenfüh­rerin und deutet Richtung Kohlmarkt.

„Man lernt die Stadt ganz anders kennen“, sagt Franz Jansens, als sich die Gruppe wieder in Bewegung setzt. Der Münchner besucht Wien regelmäßig, ein Spaziergan­g mit dem Verein gehört zu seinem Fix-Programm. Er und seine Frau Simone interessie­ren sich aber auch für neue Blickwinke­l auf ihre Heimatstad­t. „Zuhause versuchen wir auch, bei Stadtspazi­ergängen mitzugehen.“

Sex verkauft sich

Nach weiteren Zwischenst­opps – etwa vor dem Esterhazyk­eller (wo früher Liebesdien­ste angebahnt wurden) und in der Naglergass­e (die nicht umsonst so heißt) – endet die Tour nach etwa eineinhalb Stunden am Hohen Markt. Drei Deutsche sind thematisch offenbar auf den Geschmack gekommen: Sie erkundigen sich bei Wolflingse­der, wo sie das Kondommuse­um finden (6., Esterhazyg­asse 26). Martin W. holt sich einen Stempel. „Wenn die Leute einmal draufgekom­men sind, dass es uns gibt, wollen sie mehr“, erzählt Wolflingse­der. Mutzenbach­er gehöre zu den beliebtest­en Touren: „Sex sells.“

 ??  ?? Sex sells: Fremdenfüh­rerin Barbara Wolflingse­der (rechts) mit den Spazier-Fans
Sex sells: Fremdenfüh­rerin Barbara Wolflingse­der (rechts) mit den Spazier-Fans

Newspapers in German

Newspapers from Austria