Handgeschriebene Briefe, je nach Bedürfnis der Damen
BÜCHER 24 Stunden im Leben von zwei durchgebeutelten Menschen. Viel zu lang. Es prickelt, wenn ins Handy das Geburtsdatum getippt wird Am schönsten ist es, sich in der fremden Stadt zu verirren
Man soll London nicht den Rücken zuwenden.
Denn laut A.L. Kennedy ist London „ein gerissenes altes Biest“.
Diese Stadt gehört beobachtet – so wie Dublin einen Tag lang beobachtet wurde: James Joyce wollte in „Ulysses“ein Abbild erschaffen, damit es aus demBuchheraus notfalls vollständig wieder aufgebaut werden kann.
A.L. Kennedy konzentriert sich mehr auf zwei gebeutelte Menschen in London, die sich fest vornehmen, dass im weiteren Leben mehr Glück vorkommt.
Sollten sie einst verschwunden sein – man könnte Jon, 59, undMeg, 45, sofort aus dem Buch heraus wiederbeleben.
Jon ist Beamter, geschieden, er muss Politikerreden schreiben, er hat einen tyrannischen Vorgesetzten, er wird seinen Job bald verlieren. Vorgestellt wird er von A.L. Kennedy, indem Jon einen Babyvogel aus einem Netz befreit und dadurch riskiert, zu spät ins Büro zu kommen. Dabei wird seine Hose vom ängstlichen Vögelchen beschmutzt – alles Sch...
Liebling
Sozusagen nebenberuflich lässt er sich von Frauen als Briefeschreiber engagieren.
„Handgeschriebene Briefe, ganz nach Bedürfnissen der Damen. Nichts Pornografisches. „Nur“nett. So in der Art: Meine Liebe, meine Süße, mein Liebling.
Dadurch hat auch er etwas Gesellschaft, aber damit es nicht zu eng wird, kosten die Briefe etwas, um die zehn Pfund pro.
Und nun sind wir bei Meg. Sie arbeitet in einem Tierheim, sie ist Alkoholikerin ... und sie schreibt Jon zurück.
„Süßer Ernst“dauert 24 Stunden. Von 6.42 Uhr bis 6.42 Uhr. Wie bei James Joyce geht es nicht allein um Außenhandlungen – gut die Hälfte des Buchs ist Innenleben, sind Gedanken, Gefühle – aber nicht chaotisch wie im Kopf von Joyce’ Romanfigur Leopold Bloom, sondern in Ordnunggebracht undkursiv gesetzt. Zum Beispiel: „Ich sollte froh sein, dass es bloß Übelkeit ist und nicht Übelkeit und Migräne.“Oder, wichtig: „Trottel muss man heute sein!“
A.L. Kennedys Sprache ist wie immer Kulturgenuss. Zu verstehen ist „Süßer Ernst“leicht, zu lesen aber etwas mühsam.
Was hätte das für eine im Gedächtnis bleibende Erzählung sein können mit – sagen wir: 100 Seiten.
So aber sind es 560 Seiten, und nach der Hälfte ist nur noch interessant: Kommen Meg und Jon zusammen? Man will nur noch wissen, ob die drei Buchstaben zu leuchten beginnen:
Wir.
Das Ungewisse als Lebenselixier: Wolfgang Popp hat darüber „Die Ahnungslosen“geschrieben. Der Wiener könnte als ORFStar betrachtet werden. Wird er nicht. Will er bestimmt nicht. Aber die Romane, die der Kulturredakteur von Ö1 schreibt, haben eine sprachliche Qualität erreicht, da können sich hauptberufliche Autoren verstecken. Keines seiner Bilder ist schief – Erinnerungen sind bei ihm rot und jucken wie Insektenstiche (und so soll es sein).
Die Ahnungslosen. Anklopfen
Was, wenn man sein Geburtsdatum ins Telefon tippt? Wer hebt ab? Das ist eine der Unvorhersehbarkeiten, denen Popps Roman (sein vierter) nachgeht – und in diesem Fall in einem Papiergeschäft landet. Auch wird bei den Ruinen von Angkor Wat, wohin eine Jüdin aus Wien vor den Nazis flüchtete, an der Tür die Liebe anklopfen; und und und... und alle Fäden hängen zusammen und kommen zusammen. Zwiebelschneiden hilft übrigens gut gegen Traurigkeit. Tokyo Leopold Federmair flaniert durch Tokio, Sein Text darüber soll sein wie die Stadt und wie ein Baguette noch dazu: trotz der Dichte luftig.
Verirren ist ihm wichtig, damit ist er Ilija Trojanow beim Reisen nah ( siehe unten) – die verirrten Wege werden im Gedächtnis bleiben. In „Tokyo Fragmente“– er schreibt’s, bissl Japanisch, mit „y“– verirrt er sich auch zu Lucio Dalla. Wunderbar.
Fragmente. Wahlmöglichkeit
Der Oberösterreicher lebt mit Familie in Japan. Seine Spaziergänge auf Straßen und in der Literatur werden fast zufällig zur Erzählung. Hat man die Wahl zwischen Federmair und Karl Ove Knausgårds Ausführungen zu Ohrenschmalz und Sitzgelegenheiten („Der Stuhl ist zum Sitzen“), fällt die Entscheidung leicht. Das Businesshotel in Musashikoyama hat zugesperrt, in der Nähe aber fand Federmair eine Bar – davor das Schild: „Nur für Frauen“. Der Autor stellt sich die Barkeeper mit Ohrring und falschen Wimpern vor.