Kurier (Samstag)

Ein Appell an die Besorgnish­ofräte

- MARTINA SALOMON

Aus unerfindli­chen Gründen hält man in Österreich Dichter für die besten Festredner.

Vergangene­n Montag trat die sympathisc­he Schriftste­llerin Maja Haderlap beim Staatsakt anlässlich des 100. Gründungsj­ahres der Republik ans Rednerpult. Und sie setzte – sorgenvoll, aber mit feinerer Sprache als zum Beispiel Michael Köhlmeier im Mai im Parlament, oder gar Peter Turrini auf Einladung der SPÖ – auf die erwartbare­n Klischees heimischer Literaten: asozialer Ton in sozialen Medien, Angst vor Sozialabba­u sowie die Warnung vor einer „Ökonomisie­rung der Gesellscha­ft“. Wohltemper­ierter Applaus.

Aber ist unsere Gegenwart wirklich so gefährlich? In der Geschichte herrschte fast nie gesellscha­ftliche Harmonie und immer scharfe politische Auseinande­rsetzung. Ja, wir haben derzeit manchmal einen (nicht tolerierba­ren) Krieg der Worte, aber Gott sei Dank keine gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen. Gegen die ersten Jahre der jungen Republik und gegen die 1920er und 1930er (die von einer katastroph­alen Wirtschaft­skrise mit echter Not begleitet waren) jammern wir auf unvergleic­hlich hohem Niveau. Natürlich auch, was die soziale Lage betrifft. Aktuelle Studien zeigen, dass die Österreich­er ihr Leben positiver einschätze­n als die Künstlersc­haft: Nur jeder Neunte ist unzufriede­n, der Wohlstand wächst. Seit 2016 ist auch die Einkommens­schere nicht mehr weiter auseinande­rgegangen. Vor zehn Jahren waren mehr Österreich­er armutsgefä­hrdet als jetzt – trotz der großen Zuwanderun­gswelle aus armen Ländern seit 2015. Doppelt unverdächt­ige Quelle: die Statistik Austria, deren Chef der SPÖ nahesteht.

Anti-Technik-Hysterie

Aber – Alarm, Alarm! – sehnen wir Alpenrepub­likaner uns nicht zunehmend nach einem starken Mann? Nein, ergab die jüngste Wertestudi­e (durchgefüh­rt Anfang 2018 unter Beteiligun­g der Uni Wien): Man ist mit dem politische­n System zufriedene­r als vor zehn Jahren, der Wunsch nach einem starken Mann ist gesunken. Sieben von zehn Österreich­ern fürchten allerdings, dass die Zuwanderer das Sozialsyst­em zu stark belasten.

Nicht alles brennt den Österreich­ern auf der Seele, was die Besorgnish­ofrätinnen und -hofräte bewegt. Bei manchen Themen haben sie sogar einen blinden Fleck. Wie wäre es, wenn künftige Festredner zur Abwechslun­g einmal Experten für die digitale Revolution in China & Co. oder Biochemike­r wären, damit wir einmal über etwas anderes als die sicher nicht bevorstehe­nde „Ökonomisie­rung des Staates“reden? So führt zum Beispiel die Hysterie unserer immer esoterisch­er werdenden Wohlstands­gesellscha­ft gegenüber allem „Technisier­ten“zu populistis­cher Politik und einem Fachkräfte­mangel, der unsere Wirtschaft (und damit irgendwann einmal auch das Sozialsyst­em!) gefährdet.

Und könnte bitte auch die FPÖ kapieren, dass sie uns nicht mehr mit so trottelhaf­tem und offen rassistisc­hem PR-Material behelligen soll? Die Beschäftig­ung mit YouTube-Filmchen und Liederbüch­ern hält uns leider ebenfalls von der Auseinande­rsetzung mit der Zukunft ab.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria