Schule
Der rufende Vogel fliegt schreiend
Weihnachtszeit – besinnliche Zeit? Leider mitnichten. Da weißt du schon gar nicht, was dich mehr aufregt: den praktizierenden Familienvater in dir die 10.000 Schneekanonen, die aus allen Rohren pfeifen, damit sie in den anstehenden Weihnachtsferien für 50 Minuten Anstellen pro Lift 50 Euro pro Tag verlangen können, oder den praktizierenden Schulkindvater in dir die 10.000 Schularbeiten, Prüfungen, Referate und andere Arten der schulischen Testitis, die dafür sorgen, dass du mit deinem Kind noch vor den Weihnachtsferien ins wohlverdiente Burn-out kommst.
So klagt mir ein verzweifelter Vater, dass sein 11-(!) jähriger Sohn in einer Wiener AHS seit Schulbeginn in Deutsch mit Wortanalysen in Sätzen wie diesem gequält wird: Der rufende Vogel f liegt schreiend. Oder diesem: Der suchend gesuchte Sucher sucht suchend. Jetzt einmal abgesehen davon, dass solche Sätze mit Verlaub, Frau Kollegin, in einer Schularbeit aber so was von nichts zu suchen haben – muss ein Zweitklassler wirklich wissen, dass rufend in der rufende Vogel ein „Adjektivverb im Partizip 1“ist, während es sich bei schreiend um eine „Modalverb im Partizip 1“handelt? Und der Sucher im zweiten Satz. Wir haben früher schlicht „Hauptwort“dazu gesagt. Die Deutsch-Junkies wussten noch: „hauptwörtlich gebraucht“. Aber in der betreffenden Klasse gibt es den Punkt nur, wenn der oder die 11-Jährige „nominalisiertes Vollverb“hinschreibt. Schreibt sie „Verb“- nur der halbe Punkt, denn es gebe ja schließlich auch die Nicht-Voll-Verben, wie z.B. das Kopulaverb bleiben...
Mailt mir Leser Gerhard Haupt: „Viele Deutsch-Lehrerinnen und Lehrer nützen den Spielraum, den ihnen der Lehrplan lässt, eigenwillig aus. Sie unterrichten sämtliche Feinheiten einer meiner Meinung nach überkandidelten Grammatik und verzichten völlig darauf, den Kindern auch die Kunst der Rechtschreibung und der Formulierung beizubringen. (…) Ein 15-jähriger, der bei einem Aufnahmetest für eine Lehrstelle keinen fehlerfreien Satz schreiben kann, ist chancenlos! Er hat nichts davon, wenn er alle 10 Arten der Gliedsätze auswendig herbeten kann, aber nicht weiß, wie man „nämlich“schreibt. Darüber sollten die Leute, die für die Erstellung der Lehrpläne zuständig sind, vielleicht einmal nachdenken.“Sollten sie. Und gilt auch, wenn der Fortpflanz (© Polly Adler) nicht in einer MS sitzt, sondern in einer AHS, und nicht eine Lehre anstrebt, sondern ein Studium, welches auch immer. Außer natürlich das Lehramt „Wiener AHS-Deutsch-Lehrerin“.
niki.glattauer@kurier.at