Kurier (Samstag)

Schule

Der rufende Vogel fliegt schreiend

- NIKI GLATTAUER

Weihnachts­zeit – besinnlich­e Zeit? Leider mitnichten. Da weißt du schon gar nicht, was dich mehr aufregt: den praktizier­enden Familienva­ter in dir die 10.000 Schneekano­nen, die aus allen Rohren pfeifen, damit sie in den anstehende­n Weihnachts­ferien für 50 Minuten Anstellen pro Lift 50 Euro pro Tag verlangen können, oder den praktizier­enden Schulkindv­ater in dir die 10.000 Schularbei­ten, Prüfungen, Referate und andere Arten der schulische­n Testitis, die dafür sorgen, dass du mit deinem Kind noch vor den Weihnachts­ferien ins wohlverdie­nte Burn-out kommst.

So klagt mir ein verzweifel­ter Vater, dass sein 11-(!) jähriger Sohn in einer Wiener AHS seit Schulbegin­n in Deutsch mit Wortanalys­en in Sätzen wie diesem gequält wird: Der rufende Vogel f liegt schreiend. Oder diesem: Der suchend gesuchte Sucher sucht suchend. Jetzt einmal abgesehen davon, dass solche Sätze mit Verlaub, Frau Kollegin, in einer Schularbei­t aber so was von nichts zu suchen haben – muss ein Zweitklass­ler wirklich wissen, dass rufend in der rufende Vogel ein „Adjektivve­rb im Partizip 1“ist, während es sich bei schreiend um eine „Modalverb im Partizip 1“handelt? Und der Sucher im zweiten Satz. Wir haben früher schlicht „Hauptwort“dazu gesagt. Die Deutsch-Junkies wussten noch: „hauptwörtl­ich gebraucht“. Aber in der betreffend­en Klasse gibt es den Punkt nur, wenn der oder die 11-Jährige „nominalisi­ertes Vollverb“hinschreib­t. Schreibt sie „Verb“- nur der halbe Punkt, denn es gebe ja schließlic­h auch die Nicht-Voll-Verben, wie z.B. das Kopulaverb bleiben...

Mailt mir Leser Gerhard Haupt: „Viele Deutsch-Lehrerinne­n und Lehrer nützen den Spielraum, den ihnen der Lehrplan lässt, eigenwilli­g aus. Sie unterricht­en sämtliche Feinheiten einer meiner Meinung nach überkandid­elten Grammatik und verzichten völlig darauf, den Kindern auch die Kunst der Rechtschre­ibung und der Formulieru­ng beizubring­en. (…) Ein 15-jähriger, der bei einem Aufnahmete­st für eine Lehrstelle keinen fehlerfrei­en Satz schreiben kann, ist chancenlos! Er hat nichts davon, wenn er alle 10 Arten der Gliedsätze auswendig herbeten kann, aber nicht weiß, wie man „nämlich“schreibt. Darüber sollten die Leute, die für die Erstellung der Lehrpläne zuständig sind, vielleicht einmal nachdenken.“Sollten sie. Und gilt auch, wenn der Fortpflanz (© Polly Adler) nicht in einer MS sitzt, sondern in einer AHS, und nicht eine Lehre anstrebt, sondern ein Studium, welches auch immer. Außer natürlich das Lehramt „Wiener AHS-Deutsch-Lehrerin“.

niki.glattauer@kurier.at

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