Kurier (Samstag)

Jammern auf hohem Niveau

Heute, Samstag, werden Tausende Demonstran­ten in Wien gegen die Regierung protestier­en. Zu Recht?

- martina.salomon@kurier.at MARTINA SALOMON

Das innerstädt­ische Chaos mitten in der Vorweihnac­htszeit am wichtigste­n Einkaufssa­mstag des Jahres provoziert Fragen: Zerfällt gerade der Sozialstaa­t? Ist die Demokratie bedroht? Werden Arbeitnehm­errechte zerstört? Eher nicht.

Bei aller Trauer der Sozialdemo­kratie und ihrer Vorfeldorg­anisatione­n über einen Machtverlu­st, bei aller auch berechtigt­en Empörung über FPÖ-Entgleisun­gen, und bei aller Überzeichn­ung, die eine Opposition­sarbeit natürlich erfordert: Ernsthafte Gründe für die ganz große Aufregung gibt es nicht. Das bestätigen praktisch alle Meldungen der vergangene­n Tage. Laut der EUStatisti­kbehörde Eurostat gehören die Haushalte von Luxemburg, Deutschlan­d und Österreich zu den reichsten in der EU. Die OECD stellte dem Forschungs­standort Österreich soeben ein gutes Zeugnis aus. Das Wirtschaft­swachstum ist dank starker Exporte höher als in Deutschlan­d (was mehr ein Verdienst von Unternehme­n und Konjunktur als der Regierung ist). Und dass der Finanzmini­ster mit dem Fiskalrat diskutiert, ob das Nulldefizi­t schon heuer oder erst nächstes Jahr erreicht wird, muss uns nicht weiter bewegen. Da sich die weltwirtsc­haftliche Wetterlage eintrübt, schadet es nicht, ein bisschen Luft zu haben und keine Begehrlich­keiten zu wecken.

Österreich ist ein Land mit hoher Umverteilu­ng, ausgezeich­neten Arbeitnehm­errechten und sozialer Stabilität. Nichts davon ist gefährdet. Dass es jetzt die Möglichkei­t gibt, ausnahmswe­ise 12 Stunden am Stück zu arbeiten, katapultie­rt uns nicht ins 19. Jahrhunder­t zurück. Und bei der von der Opposition kritisiert­en Mindestsic­herungsref­orm geht es auch darum, höhere Arbeitsanr­eize zu setzen. Mit dem steuerlich­en Familienbo­nus gibt es ab dem neuen Jahr sogar ein politische­s Geschenk: mehr Geld für Familien mit Kindern.

Wie vertreibt man den Grant aus der Stadt?

Nein, es ist nicht zu leugnen, dass es auch bei uns viele Menschen gibt, die ohne eigene Schuld in die Armut schlittern. Und manche Reformdeta­ils kann man durchaus kritisiere­n. Aber im internatio­nalen Vergleich lebt es sich in kaum einem anderen Land komfortabl­er.

Was uns (und die Regierung) schon beunruhige­n müsste – wofür aber leider niemand demonstrie­rt: Leben wir nicht in einer recht saturierte­n Gesellscha­ft, in der viele Menschen Leistung für überbewert­et halten? Wird der Anteil, den der Staat für Pensionsle­istungen zu zahlen hat, nicht langsam zu groß? Haben wir genug qualifizie­rte Zuwanderun­g? Wie verhindern wir weitere Zersiedelu­ng (ein ökologisch viel wichtigere­s Thema als das Plastiksac­kerl)? Wie bereiten wir uns klug auf die Folgen des – kaum zu verhindern­den – Klimawande­ls vor? Wie kann Wien trotz hohen Bevölkerun­gswachstum­s einer der lebenswert­esten Orte bleiben? Und wie vertreibt man den Grant aus der Stadt? Laut „Expat City Ranking“(Bewertung durch hier lebende Mitarbeite­r ausländisc­her Firmen) zählt Wien zu den unfreundli­chsten Städten der Welt: Rang 65 von 72. Schenken wir einander zumindest in der Vorweihnac­htszeit ein freundlich­es Lächeln. Nebst einem realistisc­hen Blick natürlich.

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