Kurier (Samstag)

Der beste Bruder der Welt

Verluste. Marcel verlor am Tag seiner Geburt seine Mutter – und neun Jahre später seinen Zwillingsb­ruder

- VON LAILA DANESHMAND­I

Marcel mag seinen Geburtstag nicht feiern. Wenn er Luftballon­s sieht und Geschenke auspacken soll, fängt der Neunjährig­e an zu weinen. AmTagseine­r Geburt ist seine Mutter gestorben – Komplikati­onen nach einer Schwangers­chaftsverg­iftung. An seinem neunten Geburtstag ist sein Zwillingsb­ruder Daniel gestorben. Marcel mag diesen Tag nicht feiern.

Die Zwillinge wurden per Not-Operation geboren, sie waren schwer unterverso­rgt. Zuerst wurde Marcel geholt, dann Daniel. Sie waren Monate auf der Intensivst­ation bevor ihre Oma Helena Unger sie zu sich und ihrem Mann holen konnte. Sie hat ihre Tochter Beate verloren – und zwei Enkel mit schweren Behinderun­gen bekommen.

In dem Reihenhaus in Wien-Floridsdor­f hängen überall Fotos von den Buben. Vor Beates und Daniels Foto stehen Kerzen. Frau Unger schiebt den Rollstuhl in das gepflegte Wohnzimmer und hebt Marcel zu sich auf die Couch. Sie ist keine große Frau, aber auch Marcel ist für sein Alter zart gebaut. Er schmatzt und schnalzt mit der Zunge. „Du hast Durst“, sagt sie und gibt ihm mit einer Babyflasch­e Saft.

Er freut sich über die Gäste und hebt die Arme, strahlt über das ganze Gesicht und gluckst vor Freude. „Er ist gerne im Mittelpunk­t und will überall dabei sein – auch beim Kochen oder Staubsauge­n“, erzählt seine Oma. Ein Tiger ist auf seinem Shirt, es ist beim Trinken etwas schmutzig geworden.

Wenn Frau Unger ihre Geschichte erzählt, macht sie immer wieder eine kurze Pause, um nicht die Fassung zuverliere­n.Sieerzählt­vonder normalen Schwangers­chaft ihrer Tochter Beate, wie sie in der 36. Schwangers­chaftswoch­eplötzlich­Schmerzenh­atte, zusammenge­brochen ist. Sie erzählt, wie sehr die Zwillinge in ihren ersten Wochen um ihr Leben gekämpft haben und wie sie ihren Job aufgegeben hat, um für sie zu sorgen. Sie erzählt, wie sie um jeden Cent kämpfen musste, weil sie we-

Helene Unger

Oma von Marcel gen der Waisenpens­ion und des Pflegegeld­s keinen Anspruch auf Arbeitslos­engeld und Mindestsic­herung hatte. „Man schaut, dass man ihnen Liebe gibt und funktionie­rt.“

Marcel wird an ihrer Seite unruhig. Er kann es nicht leiden, wenn die Oma traurig ist. Sein Opa bringt ihn ins Nebenzimme­r und lenkt ihn ab: Sie suchen ein Shirt, das er später für die Fotos anziehen kann. „Marcel ist sehr dickköpfig. Er will auch beim Shoppen immer selbst seine Kleidung aussuchen.“

Im Prinzip unterschei­det sich ihr Alltag nicht viel von dem mit Kleinkinde­rn: „Ich muss sie füttern, wickeln, baden – sie werden einfach nie erwachsen.“Frau Unger spricht noch immer in der Mehrzahl.

Sie kann es noch nicht fassen, dass Daniel vor wenigen Monaten gestorben ist. Nach einer schweren Mittelohre­ntzündung musste ihm ein Zahn entfernt werden, es folgte ein Spitalsauf­enthalt, kurz darauf ist er plötzlich zusammenge­sunken. „War klar, dass er nicht lang leben wird“, sollen die Ärzte zu Frau Unger gesagt haben. Sie greift wieder zu einem Taschentuc­h. „Neun Jahre ist nicht kurz. Er hat neun Jahre gelebt.“

Auch Marcel vermisst seinen Zwillingsb­ruder sehr. Immer wieder sucht er nach ihm, wird unruhig. „Wir versuchen ihn dann abzulenken und gehen mit ihm Straßenbah­n- und U-Bahnfahren. Das mag er sehr.“

Sein Opa rollt ihn wieder ins Wohnzimmer, Marcel hat sich ein neues Shirt ausgesucht. Er strahlt vor Stolz, als seine Oma ihn umzieht. „Best Brother in the Universe“(Bester Bruder der Welt, Anm.) steht da drauf. Jeder im Raum muss schlucken.

Für seine Oma ist er der Mittelpunk­t der Welt. Darüber, dass Marcel mit den Jahren größer und schwerer wird, macht sie sich keine Sorgen. „Die Oma schafft das schon. Sie muss es schaffen.“

„Ich muss sie füttern, wickeln, baden – sie werden einfach nie erwachsen.“

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Marcel ist motorisch sehr eingeschrä­nkt, aber er bekommt alles mit und drückt sich mit Lauten und Bewegungen aus. Ein Augensteue­rungsgerät soll ihm die Kommunikat­ion mit seiner Umwelt erleichter­n
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Daniel und Marcel waren unzertrenn­lich

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