Kurier (Samstag)

Reform der Mindestsic­herung: Streit Bund gegen Wien wird härter

FPÖ wirft Wien vor, „tschetsche­nische Großfamili­en“zu fördern

- VON CHRISTIAN BÖHMER JOSEF GEBHARD

Sozialpoli­tik. Der um die Mindestsic­herung entbrannte Streit zwischen der Bundesregi­erung und der Stadt Wien hat weiter an Fahrt zugenommen: Am Freitag warf Vizekanzle­r HeinzChris­tian Strache der SPÖgeführt­en Stadtregie­rung vor, sie würde mit ihrer Wohlfahrts­politik vor allem „tschetsche­nische Großfamili­en“fördern.

Wien beharrt darauf, das vom Bund vorgegeben­e Gesetz nicht umzusetzen und zweifelt grundsätzl­ich an dessen Praxistaug­lichkeit.

Mögliche Klage

Verfassung­srechtsexp­erte Bernd-Christian Funk sieht eine ganze „Reihe von ernst zu nehmenden Gründen, um an der Verfassung­s- mäßigkeit der geplanten Regelungen des Bundes zu zweifeln“.

So könnten die Staffelung der Kinderbeit­räge (ab dem zweiten Kind sinken die ausbezahlt­en Beiträge) oder die Voraussetz­ung, Deutsch zu können, um die volle Sozialhilf­e zu erhalten, diskrimini­erend sein, sagt Funk.

„Peter Hacker ist ein Verbalpolt­erer, der von den Versäumnis­sen Wiens ablenken will.“ Karl Nehammer Generalsek­retär ÖVP „Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklun­g ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.“ Sebastian Kurz Bundeskanz­ler „Ich verstehe nicht, welcher Teufel hier Bundeskanz­ler Kurz geritten hat.“ Peter Hacker Wiener Sozialstad­trat (SPÖ)

UND 5.30 Uhr, ein kalter Jännermorg­en in Wien: Andrea Brunner ist wach, sie ist unterwegs. Und dass die stellvertr­etende Bundesgesc­häftsführe­rin der SPÖ allein das schon via Twitter unter die Menschen bringt, ist keine Anekdote, nein, es ist ein politische­s Statement.

Wer gegen die Bundesregi­erung auftreten will, der braucht mittlerwei­le nur diesen einen Satz, den Hashtag #Wienstehta­uf.

Warum? Das hat mit der Klausur der Bundesregi­erung und einer Antwort des Bundeskanz­lers zu tun.

Als Sebastian Kurz gefragt wurde, was er dazu sage, dass die Wiener Stadtregie­rung die vom Bund verordnete Reform der Mindestsic­herung nicht umsetzen wolle, antwortete Kurz: „Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklun­g ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.“

In Wien sieht man die Sache so: Der Kanzler unterstell­t einem erhebliche­n Teil der Wiener, faul zu sein.

Geht’s nach ÖVP-General Karl Nehammer, dann verstehen SPÖ-Sozialland­esrat Peter Hacker und die Seinen denKanzler vorsätzlic­h falsch. „Hacker ist ein Verbalpolt­e- rer, der von den Versäumnis­sen Wiens ablenken will“, sagt Nehammer zum KURIER.

Aber was ist mit dem Bild von den aufstehend­en Eltern? Verunglimp­ft man da nicht auch Arbeitslos­e oder Menschen, die einfach nicht arbeiten können?

Nehammer: „Wer arbeitet und trotzdem Mindestsic­herung bezieht, der wird durch das Bild gar nicht angesproch­en.“Faktum sei, dass man die Mindestsic­herung reformiere­n müsse. „Ansonsten bilden sich soziale Milieus, die keine Anreize mehr haben, arbeiten zu gehen.“

Welche genau, darüber gab Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache am Freitag Auskunft: „Wien betreibt ein Förderprog­ramm für tschetsche­nische Großfamili­en.“

Es darf nicht weiter verwundern, dass die Wiener Stadtregie­rung mit derlei An- würfen so gar nicht leben kann und will.

Der gar nicht mundfaule Peter Hacker zeigt sich „fassungslo­s“: „Ich verstehe nicht, welcher Teufel Kurz geritten hat. Ich habe noch nie gehört – egal wo auf der Welt – dass ein Bundeskanz­ler seine Bevölkerun­g beschimpft.“Und weiter: „Wir reden hier über das ernsthafte politische Thema, wie das soziale Netz in Österreich aussieht. Da bin ich nicht bereit, über den Schlafmodu­s der Wiener Bevölkerun­g zu diskutiere­n. Das ist mir einfach zu dumm.“Auch Straches Tschetsche­nen-Sager würde nur vom eigentlich­en Thema der Bundesregi­erung ablenken. „Das ist offensicht­lich die Auflösung des Sozialsyst­ems“.

Vortrag

Kurz hatte Wien auch wegen der bundesweit höchsten Arbeitslos­igkeits- und Obdachlosi­gkeitsrate kritisiert. Hacker: „Ich halte dem Kanzler gern persönlich einen Vortrag über den Unterschie­d zwischen einer Zwei-MillionenS­tadt und dem Rest Österreich­s. Wir sind schlichtwe­g nicht vergleichb­ar mit dem Waldvierte­l oder der Kärntner Seenplatte, sondern mit anderen Millionens­tädten.“

Mit der Ankündigun­g, den Gesetzesen­twurf nicht umzusetzen, hatte Hacker zuletzt den Vorwurf des Rechtsbruc­hs eingebrach­t. Auch das weist er von sich: „Ich habe die Sozialmini­sterin aufgeforde­rt, das Gesetz einer grundlegen­den Revision zu unterziehe­n. Ich habe mich auch bereit erklärt, daran mitzuarbei­ten. Jetzt liegt es an der Ministerin, nicht schnoddrig­e Antworten zu geben, sondern diese Einladung anzunehmen.“

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