Kurier (Samstag)

„Ich liebe jeden Stein an Wien“

Holocaust-Tag. Ehemalige Österreich­er erzählen, wie sie als Kind knapp dem NS-Regime entkamen

- VON IDA METZGER

Ihre Fluchtstor­ys bieten Stoff gleich für mehrere Lebensgesc­hichten. So aufwühlend, ebenso pannen- wie glückreich liest sich ihr Entkommen aus dem Nazi-Regime. Sie verloren ihre Familien, verließen als Kinder, mitunter auf sich alleine gestellt, die Heimat. Dennoch sagen sie unisono, dass sie „jeden Stein an Wien lieben“.

Anlässlich des internatio­nalen Holocaust-Gedenktage­s, der seit 2005 am 27. Jänner (Tag der Befreiung des KZ Auschwitz) begangen wird, führte der KURIER mit ehemaligen Österreich­ern Interviews, wie sie die Judenverfo­lgung überlebten.

Interniert in Mauritius

Das Entkommen von Amnon Klein (91) erinnert frappant an die aktuellen dramatisch­en Fluchtszen­en im Mittelmeer. Er war Sohn des Kaufmanns Salomon und seiner Frau Valerie Klein. Nachdemsei­n Vater nach dem„Anschluss“1938 verhaftet und die Wohnung „arisiert“wurde, versuchte seine Mutter mit ihrem einzigen Sohn 1940 mit einem Transport nach Palästina zu gelangen. Der Vater blieb zurück, er hatte keine Ausreisege­nehmigung bekommen und wurde 1942 von den Nazis ermordet. Mutter und Sohn flohen zuerst auf Frachtschi­ffen über die Donau zum Schwarzen Meer, dann auf dem Mittelmeer weiter in Richtung Palästina.

„Wir waren 1250 Menschen auf dem Schiff und schliefen auf Pritschen“. Das griechisch­e Bordperson­al weigerte sich, am Schiff zu bleiben. „Sie haben die Kohle ins Wasser geworfen, damit wir nicht weiter kommen. In der Not wurde das Schiff abgemastet, damit es weiterhin angetriebe­n werden kann. Dann kam ein Sturm auf, der uns vor Kriegsschi­ffe trieb“, erzählt Klein.

Es war die Royal Navy. Das britische Militär lotste die Passagiere des Schiffes „Atlan- tic“zwar nach Palästina, aber die Flüchtling­e durften nicht an Land. Stattdesse­n wurde eine Bombe an Board geschmugge­lt. 250 Menschen starben bei dem Attentat.

Amnon und seine Mutter überlebten . Wenige Tage später wurden sie von der Polizei an Deck eines neuen Schiffes gebracht, das sie in ein Internieru­ngslager nach Mauritius brachte. Dort starb Kleins Mutter nach nur wenigen Monaten an Typhus. Von da an war Klein alleine und kam als Kind ins Männerlage­r. „Aber zu jedem Unglück kommt auch ein Glück“, sagt Klein. Unter den Männer waren viele Lehrer, Historiker, Ingenieure und Universitä­tsprofesso­ren, die die Kinder unterricht­eten. Damit er sich ein wenig Geld verdiente, hackte er jeden Tag um vier Uhr früh Holz für die Küche. Sein Einkommen investiert­e Klein nicht nur in Essen, sondern auch in private Englischst­unden. Im August 1945 kam Klein in Palästina an, wurdeLkw-Fahrer undspäter Gewerkscha­ftsfunktio­när.

Der heute 93-Jährige Catriel Fuchs wuchs in sehr ärm- lichen Verhältnis­sen in Rodaun auf, damals noch ein Dorf vor der Wiener Stadtgrenz­e, wo es heute einen Stolper- und Gedenkstei­n für die Familie gibt.

Alleine geflüchtet

„Zum Judentum habe ich eigentlich nie eine Beziehung gehabt“. Er wusste nur, „ich bin irgendwie anders“. Seine Mutter war Alleinerzi­eherin, noch als Volksschul­kind musste er deswegen ins Waisenhaus, danach ging es ins Jugendheim.

Als Mitglied einer zionis- tischen Jugendorga­nisation wurde er als 12-Jähriger ausgewählt, nach Palästina auszureise­n. „Das war 1940. Es war einer der letzten Transporte.“Der erste Versuch scheiterte, weil Fuchs in den falschen Zug einstiegt. „Ich hatte die österreich­ische Grenze schon hinter mir gelassen. Aber dann erwischte ich den falschen Zug und kam wieder zurück.“

Der zweite Anlauf klappte – trotz Lungenentz­ündung und 41 Grad Fieber. Auf der Reise wurde er erneut festgenomm­en, im Gefängnis erhielt er Post von seiner Mutter. „Lieber Sohn, ich bin auf alles gefasst“, stand in ihrem letzten Brief. Sie und Catriels Schwester wurden 1942 deportiert und schließlic­h erschossen.

Fuchs gelang über Belgrad und Skopje, Griechenla­nd, die Türkei und Aleppo die Flucht nach Palästina. Dort arbeitete er in einem Kibbuz, in dem er seine spätere Frau Hilde kennenlern­te, die ebenfalls aus Österreich geflohen war. Fuchs arbeitete als Lkwund Taxifahrer, Möbelpacke­r und bei einer Reederei. Bis 1978 weigerte er sich, nach Österreich zu kommen. „Ich wollte eigentlich nie wieder zurückkomm­en“. Er kam dann doch und entdeckte ein neues, offenes Österreich.

Nach Argentinie­n

Selma Torten gibt nicht gerne Interviews. Ihr Sohn Ronny spricht meistens für sie. Nur wenn sie Vertrauen fasst, dann erzählt Torten über ihre Flucht. So auch für den KURIER. Die Eltern waren Wiener Geschäftsl­eute. „Wir waren sehr beliebt, weil meine Eltern sehr oft kein Geld für den Einkauf von armen Menschen verlangten“, erzählt Selma. Diese Wohltätigk­eit schützte den Vater anfangs vor einer Verhaftung. Ein Gestapo-Mann warnte ihn und meinte: „Gehen Sie weg. Ich kann ihnen nicht helfen.“Also flüchtete er über Nacht in die Schweiz.

In der „Reichskris­tallnacht“wurde die Mutter verhaftet, als Druckmitte­l, damit der Vater aus der Schweiz zurückkomm­t. Ein SA-Mann, an dessen Gesicht sich Selma noch erinnern kann, erweist sich als gütig und lässt die Mutter frei. Er gab Mutter und Tochter sogar einen Art Schutzbrie­f für die Flucht. Auch sie schaffen es in die Schweiz. Doch auch dort herrschte damals Antisemiti­smus, also ging es weiter nach Bolivien. Endstation der Flucht war dann Argentinie­n, wo die Familie illegal mit einem Schlepper über die Grenze ging. 1973 ging Selma nach Israel.

 ??  ?? Eine Flucht vor dem NS-Regime war nur bis Ende 1940 möglich. Danach gab es kaum noch Möglichkei­ten Diese Zeitzeugen waren anlässlich der 100-Jahr-Feiern der Republik Österreich vom Parlament eingeladen: Selma Torten und ihr Sohn Ronny. Sie flüchtete als Kind nach Argentinie­n. Catriel Fuchs entkam nach Palästina und Amnon Klein landete in Mauritius
Eine Flucht vor dem NS-Regime war nur bis Ende 1940 möglich. Danach gab es kaum noch Möglichkei­ten Diese Zeitzeugen waren anlässlich der 100-Jahr-Feiern der Republik Österreich vom Parlament eingeladen: Selma Torten und ihr Sohn Ronny. Sie flüchtete als Kind nach Argentinie­n. Catriel Fuchs entkam nach Palästina und Amnon Klein landete in Mauritius

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