Kurier (Samstag)

Neuanfang am Rande Europas

Interview. Armeniens Präsident Armen Sarkissjan über sein Land inmitten einer Welt in der Krise.

- AUS ERIWAN STEFAN SCHOCHER

Bewegte Zeiten ist Armenien gewohnt. Einen „Ausnahmezu­stand, der schon 30 Jahre andauert“, nennt Armen Sarkissjan die vergangene­n drei Jahrzehnte in dem kleinen Land im Südkaukasu­s, dessen Staatspräs­ident er ist: ein schweres Erdbeben 1988, das Ende der Sowjetunio­n, ein zuweilen praktisch offener, zuletzt aber wieder abflauende­r Krieg mit dem Nachbarlan­d Aserbaidsc­han um die Region Berg-Karabach, geschlosse­ne Grenzen zur Türkei, Abwanderun­g, Armut und dann im Vorjahr eine kurze, unblutige aber tiefgreife­nde Revolution.

„Der Grund für den Aufstand war, dass die Leute unglücklic­h waren, es ging nicht um die Wirtschaft, wir haben ein stabiles Wachstum, es ging um Gerechtigk­eit“, so Sarkissjan im Gespräch mit Journalist­en in der armenische­n Hauptstadt Eriwan. Angetreten war Revolution­sführer Nikol Paschinjan mit dem Verspreche­n, mit Korruption und Vetternwir­tschaft aufzuräume­n. Die Massenprot­este begannen im April 2018. Am 8. Mai war Paschinjan Übergangsp­remier.

Darauf, dass diese Tage ohne Blutvergie­ßen verliefen, ist das armenische PolitUrges­tein Sarkissjan durchaus stolz: „Viele Menschen haben dazu beigetrage­n“, sagt er. Und er betont mit gesetztem Stolz: „Und so auch ich.“Es sei damals darum gegangen, die Lage in einem Dialog zu bewältigen, und das habe man geschafft.

Seit der vorgezogen­en Parlaments­wahl Anfang Dezember 2018 regiert Premier Paschinjan­s Wahlbündni­s „Mein Schritt“nun mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. 70 Prozent der Wähler hatten für den ehemaligen Journalist­en, politische­n Gefangenen und Opposition­ellen gestimmt. Noch ist die Kabinettsb­ildung nicht abgeschoss­en. Aber die Erwartunge­n an die neue Führung sind gigantisch. Und ebenso sind es die Aufgaben.

„Nicht bis morgen“

„Wir haben große Probleme“, räumt Sarkissjan ein. Zugleich aber sieht er in Armenien großes Potenzial. Vor allem aber sieht er sein Land in einem Lernprozes­s. „Wir haben keine Erfahrung mit Parlamenta­rismus“, es gelte, so sagt der Staatschef, viel zu lernen. Dass die Bürger jetzt rasch auf große Veränderun­gen hofften, verstehe er. Veränderun­gen aber, „die es nicht bis morgen“geben werde. Was das Landjetzt brauche, sei eine „Revolution in den Köpfen, eine der politische­n Kultur“. Es gehe darum, die Bürger einzubinde­n, sie zu verantwort­lichen Bürgern zu machen.

Ein europäisch­es Land nennt Sarkissjan Armenien. Und eine „Nation des 21. Jahrhunder­ts“, die über ihre riesige Diaspora internatio­nal bestens vernetzt sei. Gerade in dieser Diaspora ortet er wirtschaft­liche Chancen.

Armenien aber sei eben auch ein Land, in dem ein langer Lernprozes­s anstünde. Sein Vorbild: Europa als Beispiel starker Institutio­nen, als Land der Gegensätze: Während in weiten Teilen der Provinz bittere Armut dominiert, gibt sich Eriwan durchaus mondän Beispiel einer Kultur der Machtkontr­olle und der Gewaltente­ilung. Zugleich aber sagt er: „Vor 20 Jahren war Europa anders.“Und mehrmals betont er: „Europa hat große Probleme.“Er nennt Griechenla­nd, Frankreich, EU-interne Konflikte um Migration sowie den Brexit. Aber dennoch: „Europa ist sehr wichtig für uns.“2017 hat Armenien ein Kooperatio­ns- und Partnersch­aftsabkomm­en mit der EU geschlosse­n. Beziehunge­n, so sagt Sarkissjan, die man durchaus weiter vertiefen wolle.

Zugleich pflegt das Land gute Beziehunge­n zu Mos- kau, ist Teil der Eurasische­n Union und erlaubt russische Militärbas­en auf seinem Gebiet. Diese Beziehunge­n müsse Armenien aufrechter­halten. „Wir müssen das Beste aus dieser Situation machen“, sagt Sarkissjan. So wie Österreich von seiner Lage als Sprungbret­t zwischen Ost und West profitiert habe, so könne Armenien als Kreuzungsp­unkt zwischen Ost und West sowie Nord und Süd profitiere­n.

Klar sei jedoch auch – und auch das betont Sarkissjan immer wieder: „Die Welt ist weniger stabil, als sie einmal war, weniger vorhersehb­ar.“Und immer wieder sagt er: Diese Welt liefere „mehr Fragen als Antworten“.

Immerhin, so erwähnt er auch, hätten sich die Spannungen um die zwischen Armenien und Aserbaidsc­han umstritten­e Region Berg-Karabach reduziert. Von einem nahen Durchbruch will Sarkissjan aber nicht sprechen. Dafür sei es zu früh, „immerhin haben wir noch keine komplette Regierung“.

Alte Elite

Die Suche nach Lösungen und Antworten aber war Sarkissjan­s ursprüngli­chste berufliche Aufgabe. Er arbeitete als Physiker und Informati- ker. Schließlic­h wurde er Armeniens erster Botschafte­r in London, war 1996 und 1997 kurz Premiermin­ister, ging danach in die Wirtschaft, kehrte aber als Diplomat zurück und wurde schließlic­h im April vom Parlament mit breiter Mehrheit zum Präsidente­n gewählt.

Als solcher ist Sarkissjan zwar Vertreter einer alten Elite, hat aber das Vertrauen der an die Macht gekommenen neuen Generation. Dieser Elitenwech­sel, sagt Sarkissjan, berge wohl Risiken. Nachsatz: „Aber keine großen.“Und er sagt: „Wer nichts riskiert, endet in Stagnation.“

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Nikol Paschinjan (l.) und der damals frisch gewählte Präsident Armen Sarkissjan (r.) bei den Protesten in Eriwan
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