REPORTAGE Ausharren im Krieg
Der Konflikt im Osten droht in Vergessenheit zu geraten. Die Caritas hilft vor Ort
Auf zwei Krücken gestützt humpelt Valeriy den 1,5 Kilometer langen Weg am Grenzübergang Stanitsya Lugansk entlang. Schritt für Schritt kommt er voran – immer mit dem linken Bein. Das rechte hat er im Krieg verloren.
Zwischen 10.000 und 15.000 Menschen passieren täglich den Grenzübergang zwischen dem von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet im Westen und jenem von pro-russischen Separatisten kontrollierten im Osten.
Dazwischen liegt die sogenannte Kontaktlinie – die Front. In der Ukraine herrscht Krieg. Nach wie vor.
Im Rest von Europa scheint der Krieg in dem Land, dessen Grenze von Wien aus nur 200 Kilometer weiter entfernt ist als Bregenz, schon fast in Vergessenheit geraten (siehe Zusatztext). 13.000 Menschen sind seit Ausbruch des Kriegs im Jahr 2014 getötet worden. Wohnungen wurden zerbombt, Familien zerrissen. Auch jene von Valeriy.
Stunden an der Grenze
Der alte Mann lebt im ukrainisch kontrollierten Gebiet, seine Schwester und seine Mutter auf der anderen Seite. Wenn er sie besuchen will, kommen ihm seine Verwandten am Grenzübergang entgegen, um ihn zu stützen.
Wer über die Grenze will, muss früher kommen als um 9 Uhr, wenn sie offiziell geöffnet wird. Bis 17 Uhr ist es möglich, die Grenze zu passieren. Wenn es schnell geht, dauert das zwei oder drei Stunden, meistens aber etwa sechs Stunden – und oft auch bis zu drei Tage – weil so viele Menschen anstehen, dass nicht alle durchkommen und am nächsten Tag erneut ihr Glück versuchen müssen.
Nur wenn sich internationale Delegationen ein Bild von der Situation machen, geht es plötzlich ganz schnell. Das ist auch so, als sich eine Delegation der Caritas Wien und Ukraine der Kontaktlinie nähern – auf Hinweis des Militärs mit schusssicheren Westen und Helmen. Die Menschen, die schon stundenlang anstehen, sind ungeschützt. Wenn geschossen wird, dann erst ab 18 Uhr – so lautet die Vereinbarung.
Besonders betroffen von dem Konflikt sind die Bewohner der sogenannten Pufferzone, einem 15 Kilometer breiten Gebiet entlang der Kontaktlinie. Wer noch hier lebt, tut dies unter widrigsten Umständen.
Flucht in den Erdkeller
An den Wänden in den Klassen der Valuske Schule nahe der Kontaktlinie hängen Bastelarbeiten, in den Gängen Info-Plakate, wie sich die Kinder verhalten sollen, wenn sie Landminen entdecken. Die Schule war schon mehrmals unter Beschuss – dann fliehen die Schüler in den Erdkeller, in dem das Gemüse gelagert wird. Einen echten Bombenschutzkeller gibt es nicht.
Mit Hilfe der Caritas wurde in dieser Schule (und in 17 anderen im Kampfgebiet) eine Betreuung durch Psychologinnen und Sozialpädagoginnen geschaffen. Sie helfen den Kindern dabei, mit dem Krieg umzugehen. „Wir haben einfach jemanden, mit dem wir reden können“, erzählt die 15-jährige Lisa, die neben ihrer besten Freundin Alessia sitzt.
Viele Eltern können ihren Kindern nicht die Aufmerksamkeit geben, der sie eigentlich bedürften. Sie sind vom Krieg verwundet oder traumatisiert. „Wir wollen einfach unser Leben leben. Ins Café gehen, studieren – am liebsten in Kharkiv“, sagt Alessia. „Aber wir wissen ja nicht einmal, was in der nächsten halben Stunde passiert.“Deshalb gehen viele weg.
Intern vertrieben
Seit dem Ausbruch des Kriegs sind laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) 1,1 Mio. Menschen ins (benachbarte) Ausland geflüchtet. Weitere 1,5 Mio. in andere Landesteile der Ukraine. So wie Lena.
Die rosa gestrichene Küche der Zwei-Zimmer-Wohnung, in der die 32-Jährige mit ihrer Tochter Anja (8) lebt, muss sie mit einer anderen Familie teilen.
Vor vier Jahren flüchtete Lena mit ihrer Tochter und der kranken Mutter aus Donezk – ihre Heimatstadt ist seit dem Krieg in pro-russischer Hand. „Ich hatte große Angst, wegzugehen“, erzählt sie. „Wo sollten wir hin? Wovon sollten wir leben?“Doch im Winter 2015 trifft sie die Entscheidung, zu f lüchten: „Donezk war ein halbes Jahr lang unter Beschuss“, erzählt sie.
Alltägliche Bomben
Aber die Bomben waren es nicht, die sie zwangen, zu gehen. „Das hört sich komisch an, aber die gehören irgendwann zum Alltag. Aber als es kein Gas mehr gab und kein Wasser und keinen Strom, habe ich nicht mehr gewusst, wie ich mein Kind versorgen soll.“Lena packte ihre Tochter, ihre Mutter und ein paar Kleidungsstücke und flüchtet nach Kharkiv. Zuerst ins Flüchtlingsheim, später findet sie eine Wohnung.
Dort sitzt sie nun, in dieser rosa gestrichenen Küche, in der es nur acht Teller, einen alten Kühlschrank, einen Kanister Wasser und Löskaffee gibt. Die Caritas bringt ein Mal im Monat ein Lebensmittelpaket – mit Öl, Zucker, Nudeln, Fisch- und Fleischdosen.
Seit März 2014 unterstützte die Caritas Österreich gemeinsam mit der Caritas Ukraine und Partnerorganisationen 100.000 Binnenflüchtlinge und stellte dafür 5,3 Mio. Euro bereit. Der Krieg in der Ukraine sei einer, der „niemanden interessiert“, sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. „Aber die Kernkompetenz der Caritas ist es, hartnäckig zu bleiben.“
Eine Million Euro will die Caritas heuer an humanitärer Hilfe für die Ukraine lukrieren – für Lebensmittel und psychosoziale Unterstützung für die Menschen zwischen den Fronten.