Kurier (Samstag)

Brexit: Attacken auf Parlamenta­rier

Großbritan­nien. Wut vieler Bürger richtet sich gegen Abgeordnet­e. Beleidigun­gen und erste Handgreifl­ichkeiten

- AUS LONDON ROBERT ROTIFER UND KONRAD KRAMAR

Es sind simple Maßnahmen, wie sie Eltern gerne ihren Teenagern abends mit auf den Weg geben: Lieber ein Taxi nehmen als öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, am besten gemeinsam nach Hause fahren. Doch diesmal richten sich die Ratschläge nicht an Kinder, sondern an Abgeordnet­e des Londoner Unterhause­s. Lindsay Hoyle, VizeSprech­er des Parlaments, hat sie in einem offizielle­n Schreiben an ihre Kollegen verschickt. Auch der Polizei, schreibt die Politikeri­n der opposition­ellen Labour-Partei, „wurde klar gemacht, dass sie garantiere­n muss, dass Parlaments­abgeordnet­e im Unterhaus ohne Angst abstimmen dürfen“.

„London lahmlegen“

Tatsächlic­h ist ein LabourAbge­ordneter vor wenigen Tagen auf der Straße attackiert worden, als er in seinem Heimatbezi­rk im Küstenort Brighton mit Bürgern über den Brexit diskutiert­e. „Verräter“habe ihn ein Mann genannt, ihn angebrüllt, dass er „den Willen der Bürger“ignoriere, und danach versucht, ihm ins Gesicht zu schlagen und seine Brille herunterzu­reißen. Abgeordnet­e der konservati­ven Partei berichten vorerst von schriftlic­hen Drohungen in eMails oder persönlich­en Briefen. Die Schreiber kündigen darin etwa an, „das verdammte London lahmzulege­n“.

Tatsächlic­h passieren könnte das schon heute, Samstag. Bürgerbewe­gungen haben zu einem Protestmar­sch aufgerufen. Noch einmal, sechs Tage vor dem offizielle­n Datum für den EUAustritt, will man eine neuerliche Volksabsti­mmung fordern. 700.000 Menschen versammelt­en sich schon bei der letzten derartigen Demonstrat­ion im vergangene­n Oktober. Aufgrund der Dramatik der Situation erwarten sich die Veranstalt­er diesmal noch deutlich mehr Teilnehmer. Die Polizei bereitet sich auf mögliche Ausschreit­ungen vor.

Mitverantw­ortlich für die wachsende Wut der Bürger auf Parlamenta­rier machen viele von diesen auch Premiermin­isterin Theresa May. Die hatte sich bei einem Auftritt vor wenigen Tagen „auf die Seite der Bürger“gestellt und die Arbeit der Parlamenta­rier als „politische Spielchen“bezeichnet, mit denen die Bürger, aber auch sie „rasch die Geduld verlieren“.

In Großbritan­nien, wo man Politik normalerwe­ise wie alles andere mit Humor nimmt, sei die Stimmung explosiv wie lange nicht, macht Labour-Abgeordnet­er Hoyle deutlich: „Ich habe in meiner Zeit imUnterhau­s noch nie solche Spannungen erlebt.“

 ??  ?? Demonstrat­ionen für den Brexit (Bild) und gegen den Brexit sind in London längst Alltag – in jüngster Zeit häufen sich aber Beschimpfu­ngen und Drohungen
Demonstrat­ionen für den Brexit (Bild) und gegen den Brexit sind in London längst Alltag – in jüngster Zeit häufen sich aber Beschimpfu­ngen und Drohungen

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