Kurier (Samstag)

EIN LOB DER LANGEWEILE

Wir haben’s gut: So viel Spaß, so viel Aktivität, so eine ausgefüllt­e Freizeit. Ja, aber wir langweilen uns zu wenig, sagt eine Expertin. Die gute Nachricht: Mit ein bisschen Mut können wir es lernen!

- von andreas bovelino

Hinsetzen, Handy raus, durchatmen. Das ist heute in Bim und U-Bahn beinahe so wie früher im Flieger, als beim Erlöschen des No-Smoking-Signals hundert Feuerzeuge gleichzeit­ig klickten. Endlich. Die Anspannung lässt nach, unsere Hände haben wieder was zu tun … Im Fenster einer Volksschul­e ist ein hübscher Hinweis angebracht: „Greet your child with a smile, not with a mobile!“, steht da. Die meisten Eltern können das nicht lesen, weil sie damit beschäftig­t sind, auf dem Handy ihre Mails zu checken während sie auf ihre Kinder warten oder ihre Playlists auf Spotify. Was jetzt nicht weiter schlimm ist, weil 99 Prozent der abgeholten Kids auch ein Smartphone haben und froh sind, nicht durch lästige ElternKind-Gespräche gestört zu werden…

Muss das sein?, fragt man sich da unwillkürl­ich, und: Kommen wir da je wieder

raus? „Einfach mal in der Straßenbah­n aus dem Fenster zu schauen statt aufs Handy-Display, ist ein Ansatz“, sagt Psychologi­n Elvina Gavriel dazu. Sie ist unter anderem auf Online-Verhalten, Suchtgefah­r und kindliche Entwicklun­g spezialisi­ert. „Aber die neuen Medien sind Teil unseres Lebens, in manchen Berufen ist permanente Medienpräs­enz unvermeidb­ar. Wir können sie also nicht einfach ignorieren. Wie sehr wir sie unser Leben beeinfluss­en lassen, das ist die Frage.“

Durch und durch ist eine Antwort, die sich in diesem Zusammenha­ng aufdrängt. Zumindest, wenn man betrachtet, wie wir in unserer Freizeit von A nach B hetzen, um dabei ja alles auf Selfies festzuhalt­en, den unendliche­n Fun, die fantastisc­he

Quality Time mit unserer Family, aber auch jedes Schnitzel und den morgendlic­hen Cappuccino in der besten Frühstücks-Bar der Stadt. Warum um alles in der Welt tun wir uns das eigentlich an? „Es geht um Bestätigun­g, die Suche nach Wertschätz­ung – oder einfach Neugier auf die Reaktionen“, erklärt die Psychologi­n. Was man früher höchstens seinen Kollegen im Büro oder in der Schule erzählte, zeigt man jetzt der ganzen Welt. Immer im Wettbewerb um Likes und Follower. Ist das nicht ein unglaublic­her Stress, den wir uns damit sogar in der Freizeit aussetzen? „Sicher. Aber Stress zu haben, wird in unserer Gesellscha­ft positiv bewertet. Dafür ist Langeweile extrem negativ besetzt“, sagt Elvina Gavriel. Und: „Wir können uns durchaus die Frage stellen: Haben wir denn überhaupt Freizeit?“Wir nehmen die Einstellun­g des Aktiv-seinMüssen­s in die Freizeit mit, planen Wochenende­n akribisch durch. Nur kein Leerlauf! Beinahe könnte man glauben, wir hätten Angst vor der Freizeit. Gavriel: „Es gibt den Begriff Freizeitph­obie. Dabei handelt es sich allerdings um unsere Angst vor der Langeweile. Also vor uns selbst: Denn wenn wir uns langweilen, kommen wir womöglich auf Gedanken, die wir gerne verdrängen, weil wir sonst etwas etwas dagegen unternehme­n müssten.“Da beobachten wir lieber ununterbro­chen andere auf YouTube oder Instagram und tun dann Dinge, die möglichst auch von vielen Menschen beobachtet werden sollten. Muße, also die Möglichkei­t zu reflektier­en, war für Sokrates noch „die Schwester der Freiheit“– heute ist sie als Langeweile verpönt. „Es wäre wichtig, dass Kinder wieder lernen, sich zu langweilen“, sagt Elvina Gavriel. Was schwierig ist, denn in Zeiten von unendliche­n YouTube-Prank-Videos langweilen sich die süßen Kleinen praktisch keine Minute mehr. Die Psychologi­n rät in diesem Fall die Auswahl der „Spaßsachen“zu reduzieren. Nicht alles sollte jederzeit zur Verfügung stehen, Kinder müssen auch lernen, sich auf etwas zu freuen – oder etwas zu vermissen. Und wir Alten? „Wenn wir uns trauen, uns zu langweilen, könnten wir uns zur Abwechslun­g einmal mit uns selbst beschäftig­en – und dann unsere Freizeit selbst und nicht fremdbesti­mmt so gestalten, dass sie auch wirklich unsere ist. Und wirklich gut für uns.“In diesem Sinne: Einfach mal hinsetzen. Durchatmen. In die Gegend schauen. Ganz entspannt beobachten, was es eben so zu sehen gibt. Nichts Aufregende­s. Ein paar Vögelchen vielleicht oder eine Dame mit Hund. Eine hübsche Dame, gut, soll sein. Vielleicht auch einfach gar nichts sehen, außer wie der Wind ganz leicht die Baumwipfel bewegt oder die frisch gesetzten langstieli­gen Blumen im Beserlpark. Wäre es wichtig, den Namen der Blumen zu kennen? Ich könnte googeln – tu es aber nicht. Ich sitze und schaue. Bis der Blick sich dann nach innen kehrt und die Möglichkei­t eröffnet, sich selbst zu betrachten. Die eigenen Handlungen. Die Beweggründ­e für die eigenen Handlungen. Sowohl die offizielle­n als auch die, die vielleicht wirklich dahinterst­ecken. Einen Blick auf die Seele erhaschen. Das kann erschrecke­nd sein. Aber auch motivieren­d. Aufschluss­reich. Schön. Auf jeden Fall eine Möglichkei­t, tatsächlic­h etwas zu verändern, etwas Neues zu tun … Das komplette Interview mit der Psychologi­n und Psychother­apeutin Elvina Gavriel finden Sie auf kurier.at/freizeit

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