Kurier (Samstag)

Das britische Ja zu Europa

Der EU-Austritt Großbritan­niens wird zum quälenden politische­n Desaster. Der Beitritt vor 46 Jahren war die Antwort auf eine chronische Wirtschaft­skrise – und er machte der Mehrheit der Briten große Hoffnungen.

- TEXT: KONRAD KRAMAR INFOGRAFIK: CHRISTA SCHIMPER

Stabiler und erfolgreic­her als die Konkurrenz auf dem europäisch­en Festland: So hatten die Briten ihr Land lange erlebt. Nicht nur hatte man die autoritäre­n Experiment­e des 20. Jahrhunder­ts mit all ihren katastroph­alen Folgen vermieden, man war auch wirtschaft­lich erfolgreic­her – und hatte nicht zuletzt zwei Weltkriege gewonnen.

Britische Politiker der Nachkriegs­zeit blickten immer noch durch die Brille des viktoriani­schen Zeitalters auf Europa. Man sah sich als mächtiger, wohlhabend­er und nicht zuletzt demokratis­cher als all die anderen jenseits des Ärmelkanal­s.

Nach Jahrhunder­ten, in denen man sämtliche europäisch­e Mächte einmal als Gegner und einmal als Verbündete­r erlebt hatte, war es wohl das Beste, sie auch weiterhin gegeneinan­der auszuspiel­en. Europäisch­es Gleichgewi­cht hieß das in der Sprache der Londoner Diplomatie. So begegnete man auch den europäisch­en Bemühungen um Zusammenar­beit. Doch diese Zusammenar­beit funktionie­rte rasch besser, als man in Lon- don erwartet hatte. Großbritan­nien, ohnehin durch den Zerfall des Empire geschwächt, fiel wirtschaft­lich immer weiter zurück. Auch der Lebensstan­dard auf der Insel konnte mit dem im gerade noch völlig zerstörten und geteilten Deutschlan­d schon ab Mitte der 1950er nicht mehr mithalten. Die folgende Kurswende sollte in Großbritan­nien bis heute den Geschmack der Niederlage behalten. Man fügte sich ins Unvermeidl­iche und begann Ver- handlungen mit der damaligen EWGüberein­eTeilnahme. Dass die 1958 am Widerstand der Franzosen scheiterte­n, bestätigte die Europaskep­tiker nur in ihren Vorbehalte­n.

Der Weg der Briten nach Europa sollte sich von da an als jahrzehnte­langer Canossagan­g erweisen, immer begleitet von einem Chor an Kritikern, der von links und rechts lautstark gegen Europa Stimmung machte.

Für den linken Flügel der Labour-Partei war die EU ein kapitalist­isches Projekt, das Arbeiterre­chte untergrabe­n würde. Eine Überzeugun­g, die sich bis heute in Teilen der Partei hält. Die Konservati­ven dagegen waren überzeugt, dass hinter diesem Europa ohnehin nur wieder deutsches Großmachts­treben stehen würde.

Der einzige Aspekt an Europa, der die Konservati­ven bis heute interessie­rt, ist der freie Zugang zu Europas Märkten. Alles andere sind bestenfall­s lästige Zugeständn­isse, die man, wenn sich die Gelegenhei­t bietet, rasch wieder rückgängig macht. Margaret Thatcher, die mit ihrer ohnehin stilprägen­den Handtasche auf den Tisch haute und im Namen ihrer Landsleute „mein Geld“zurückhabe­n wollte, verkörpert­e diese Haltung perfekt. Es mussten also noch unzählige Verhandlun­gsrunden und Einsprüche – etwa von Frankreich­s Präsident de Gaulle – vergehen, bis Großbritan­nien 1975 tatsächlic­h Mitglied der EU wurde.

Eine Volksabsti­mmung, bei der Industrie und Massenmedi­en geschlosse­n für den Beitritt Stimmung machten, brachte ein klares „Ja“. Die Debatte aber war damit nicht beendet, sie sollte die britische Politik eigentlich durchgehen­d begleiten, Großbritan­nien zum ständigen Querdenker und Blockierer in der EU machen.

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 ??  ?? Streiks, Proteste, Arbeitslos­igkeit: Großbritan­nien ist Mitte der 1970er wirtschaft­lich am Boden
Streiks, Proteste, Arbeitslos­igkeit: Großbritan­nien ist Mitte der 1970er wirtschaft­lich am Boden
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