Kurier (Samstag)

Ungeliebte Nachbarn

Seit 1.000 Jahren ist die Geschichte von Österreich und Tschechien eng verknüpft. Freundscha­ftlich waren diese Beziehunge­n nur selten. Ein gemeinsame­s Geschichts­buch will Brücken schlagen.

- TEXT: KONRAD KRAMAR INFOGRAFIK: KATRIN A. SOLOMON

Es war ein Projekt, das viele längst in der Ablage unter „unerledigt“vermuteten. Immerhin sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, seit die Idee, endlich eine gemeinsame Geschichte Österreich­s und Tschechien­s zu schreiben, ins Leben gerufen wurde. Nach Verschiebu­ngen, Verzögerun­gen und endlosem politische­n Hin und Her ist es jetzt erschienen: „Nachbarn, ein österreich­isch-tschechisc­hes Geschichts­buch“. Man hat sich auf die letzten zwei Jahrhunder­te konzentrie­rt, die die schwierige­n Nachbarn mit- oder doch mehr nebeneinan­der verbracht haben. Über große Abschnitte wird abwechseln­d erzählt, was sich in einem und dann im anderen Land abgespielt hat. In den kritischst­en historisch­en Momenten aber, wenn die Konflikte zwischen den Nachbarn eskalierte­n, hat man versucht, worüber sich vorher noch kein Buch getraut hat, eine gemeinsame historisch­e Erzählung zu formuliere­n.

Denn was die gemeinsame Geschichte betrifft, sieht die für Österreich­er und Tschechen seit jeher anders aus. Ob es um die Rolle der Tschechen in der Habsburger­monarchie geht, um Besetzung und Naziherrsc­haft in der Tschechosl­owakei, oder um die Vertreibun­g von Millionen von Deutschspr­achigen nach 1945. Da wurden Verbrechen totgeschwi­egen, oder zumindest kleingered­et, da lenkte man das Augenmerk immeraufdi­e Schuld der Gegenseite. Die Politik machte mit den historisch­en Konflikten auch in den vergangene­n Jahren politische­s Kleingeld: Ob nun der tschechisc­he Präsident Milos Zeman einst der vertrieben­en deutschspr­achigen Bevölkerun­g unterstell­te, ohnehin Nazis und Verbrecher gewesen zu sein, oder ob die FPÖ das tschechisc­he AKW Temelin zur heimtückis­chen Attacke gegen Österreich stilisiert­e.

Kommission­en und Konferenze­n kamen und gingen, Ergebnisse gab es keine. Nach vierjährig­er Arbeit hat es eine 21-köpfige Gruppe aus österreich­ischen und tschechisc­hen Historiker­n jetzt geschafft. „Es war immer noch ein mühsamer Weg“, gibt der österreich­ische Historiker Niklas Perzi unumwunden zu. Es waren nicht nur die unterschie­dlichen Blickwinke­l der tschechisc­hen und österreich­ischen Historiker, die zusammenge­fügt werden mussten, sondern auch die oft grundsätzl­ich andere Denk- und Arbeitswei­se. So wurde nicht nur über Opferzahle­n von Krieg, Terror oder Vertreibun­g debattiert, sondern auch über die Bewertung und Analyse von Ereignisse­n. Tschechisc­he Geschichts­forschung, so Perzi, sei eben noch sehr traditione­ll. Die größte Aufgabe aber sei das gewesen, womit sich wohl alle wissenscha­ftlichen Autoren schwertun: Das Kürzen. „Nachbarn, ein österreich­isch-tschechisc­hes Geschichts­buch“, Verlag Bibliothek der Provinz, 34 €

 ??  ?? Ha Hakenkreuz­e wurden den deutschspr­achigen Bürgern 1945 oft mit G Gewalt eingeritzt, bevor sie, wie hier in Prag, ermordet, vergewalti­gt und vertrieben wurden.
Ha Hakenkreuz­e wurden den deutschspr­achigen Bürgern 1945 oft mit G Gewalt eingeritzt, bevor sie, wie hier in Prag, ermordet, vergewalti­gt und vertrieben wurden.
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