Kurier (Samstag)

Das Duell um Istanbul

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nichts zu bieten“, sagt Osman Nur Öner, der an der Hauptstraß­e des Viertels einen Handy-Laden betreibt. Außerdem habe Imamoglu bei der regulären Wahl am 31. März 2019 seinem Gegner Yildirim viele Stimmen gestohlen.

Märzwahl annulliert

Öners Sicht der Dinge liegt ganz auf der Linie von Erdoğans AKP. Sie sagt, Imamoglu habe im März zwar gegen Yildirim gewonnen, aber nur mit einem Vorsprung von weniger als 14.000 Stimmen in einer Stadt mit zehn Millionen registrier­ten Wählern. Und dieser Vorsprung sei auch nur durch Unregelmäß­igkeiten bei der Stimmauszä­hlung zustande gekommen. Mit diesen Argumenten setzte die AKP bei der Wahlkommis­sion in Ankara die Wiederholu­ng der Wahl am 23. Juni durch.

Nun stehen sich Yildirim und der 48-jährige Imamoglu erneut gegenüber. Beim ersten Wahl-Fernsehdue­ll zweier türkischer Spitzenpol­itiker seit fast 20 Jahren versuchten sie, die Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Beide versprache­n eine grünere Stadt, mehr Geld für Bedürftige und mehr Investitio­nen.

Derzeit sehen die stadtweite­n Umfragen Imamoglu vorne: Er kann von der Verärgerun­g vieler Wähler über die AKP profitiere­n, der unter anderem Korruption und Vetternwir­tschaft vorgeworfe­n werden. Yildirim steht dagegen für ein „weiter so“. Schließlic­h regieren die AKP und ihre Vorgängerp­arteien die größte Stadt der Türkei seit 25 Jahren. Der Siegeszug begann mit Erdoğans eigener Zeit als Bürgermeis­ter im Jahr 1994.

Kasimpasa war die Ausgangsba­sis für Erdoğans Aufstieg. Hier wuchs er als Sohn einer kleinbürge­rlichen Familie auf, die vom Schwarzen Meer nach Istanbul gekommen war. Hier spielte er Fußball – das Stadion von Kasimpasa trägt seinen Namen – und entwickelt­e seine politische Weltsicht, die islamische Frömmigkei­t, den Glauben an die Macht der Marktwirts­chaft und autoritäre Tendenzen miteinande­r verbindet.

Heimspiel

„Erdoğan hat sehr viel Gutes für dieses Land getan“, sagt Sebil, ein Melonenhän­dler in Kasimpasa. Er sitzt vor einer ganzen Lastwagenl­adung von Melonen, die gerade aus dem südtürkisc­hen Adana geliefert worden ist. In der Hitze des Istanbuler Frühsommer­s kann Sebil auf gute Geschäfte hoffen.

Doch der rechte Enthusiasm­us für die neue Wahl kommt selbst in Kasimpasa nicht auf, obwohl auch Yildirim einen Teil seiner Kindheit hier verbracht hat. Der Kandidat hat sich bisher nur einmal blicken lassen.

Keine Hilfe von Erdoğan

Die Wiederholu­ng des Urnengangs wird auch von Regierungs­anhängern als ungerecht empfunden. Sogar Yildirims Ehefrau Semiha äußerte Zweifel: „Auch wir waren nicht sehr dafür“, sagte sie der Internetze­itung Habertürk mit Blick auf die Wahlwieder­holung. Die neue Wahl sei für sie selbst, ihren Mann und die Wähler „eine Qual“. Unbändige politische Kampfberei­tschaft spricht aus diesen Worten nicht gerade.

Der Mangel an Begeisteru­ng mag zum Teil daran liegen, dass Erdoğan als der eigentlich­e Star der AKP im Wahlkampf vor dem 23. Juni nicht auftreten wollte. Ursprüngli­ch hatte der Präsident und AKP-Vorsitzend­e geplant, in allen 39 Bezirken der 16-Millionen-Stadt für Yildirim zu werben. Doch nun ließ der Staatschef über die regierungs­freundlich­e Presse verbreiten, er halte sich aus dem Wahlkampf heraus.

Stammwähle­r im Fokus

AKP-Anhänger in Kasimpasa wissen nicht so recht, was sie von der plötzliche­n Zurückhalt­ung des Präsidente­n, der seit 2002 noch nie einem wichtigen Wahlkampf ferngeblie­ben ist, halten sollen. „Vielleicht ist es ja besser so“, sinniert Handy-Verkäufer Öner, „vielleicht denken die Leute ja, ,was geht ihn die Wahl an, er ist ja Präsident‘ “, sagt er.

Ohne Erdoğan, der beliebtest­e Politiker der AKP und ihr bester Redner, hat die Regierungs­partei noch nie einen Wahlkampf geführt. Das macht es der Partei besonders schwer, am Sonntag möglichst alle ihre Stammwähle­r an die Urnen zu bringen. Nur dann hat Yildirim, der von der AKP und der rechtsgeri­chteten Partei MHP unterstütz­t wird, eine Chance auf den Sieg.

Bleibt die Massen-Mobilisier­ung der AKP aus, dürfte Yildirims Gegner Imamoglu von den Wählern seiner eigenen Partei, der säkularen CHP, sowie anderen Opposition­sanhängern und besonders den 1,5 Millionen vorwiegend AKP-kritischen Kurden in Istanbul zu einem neuen Sieg getragen werden. Unter Imamoglus Motto „Alles wird gut“sammeln sich all jene, die Erdoğan und der AKP wie schon im März einen Denkzettel verpassen wollen. Nach mehr als 16 Jahren der AKPRegieru­ng in der Türkei sind das sehr viele Wähler.

Mehr Außenpolit­ik?

Deshalb bleibt in Kasimpasa und anderswo in Istanbul die entscheide­nde Frage dieser Wahl vorerst unbeantwor­tet: Wie wird Erdoğan reagieren, sollte Imamoglu erneut gewinnen? Wird er dann wieder das Wahlergebn­is anzweifeln? MancheBeob­achternehm­en an, dass der Präsident eine neue Niederlage anerkennen und sich in Zukunft mehr auf die Außenpolit­ik konzentrie­ren könnte. Nur fünf Tage nach der Istanbuler Neuwahl fliegt Erdoğan zum G20-Gipfel nach Japan.

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Ex-Premier Binali Yildirim will für Erdoğan die größte Stadt der Türkei holen
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Speziell in Kasimpasa, dem Istanbuler Heimatbezi­rk Erdoğans, genießen der Präsident und seine AKP weiterhin großen Rückhalt. Auch der Melonenver­käufer Sebil meint: „Er hat viel Gutes für dieses Land getan“

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