Der Druck auf Kinder steigt
geschrieben, die oft falsch verstanden werden. Eine ebenso hingeschleuderte Antwort kann eine Auseinandersetzung rasch aufschaukeln. Man kann über diese Kanäle keinen Konflikt lösen. Das geht nur übers persönliche Gespräch. Dieses aber gehört geübt – sonst weiß man gar nicht mehr, wie das funktioniert.
Die Erwartungen an Kinder und Jugendliche sind also gestiegen?
Den Eindruck habe ich. Weil der Ruf der Neuen Mittelschule etwa in Wien nicht so gut ist, drängen viele Eltern auf einen AHS-Platz – obwohl eine gute Mittelschule für ihr Kind vielleicht die bessere Alternative wäre. Von Frauen wird heute verlangt, im Beruf Karriere zu machen und gleichzeitig Kinder zu bekommen. Nicht, dass da etwas grundsätzlich dagegen spricht: Aber es ist nicht so leicht, wie es oft dargestellt wird. Solche, oft auch nur indirekt vermittelten Erwartungen an künftig zu erbringende Leistungen können – wenn die genetischen Grundlagen vorhanden sind – das Risiko für psychische Erkrankungen deutlich erhöhen.
Gibt es mehr Betroffene?
Das wird immer wieder behauptet, aber es gibt international keine wirklich belastbaren Zahlen. Laut unserer Studie zur Häufigkeit von 27 psychischen Krankheitsbildern gemeinsam mit demLudwigBoltzmannInstitut ist ein Viertel aller jungen Menschen in Österreich zum aktuellen Zeitpunkt von einem psychischen Gesundheitsproblem betroffen. Bei Mädchen sind Angststörungen am häufigsten, bei Buben ADHS (AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung) und Verhaltensauffälligkeiten wie Impulskontrollstörungen.
Was wir an unserer Klinik sehen, ist, dass der Schweregrad der Erkrankungen bei uns zunimmt. Aber das kann auch mit den immer noch bestehenden Mängeln in der Versorgung zu tun haben: Wenn uns etwa in Wien 50 Prozent der notwendigen stationären Plätze fehlen, können wir ja auch nur die schwersten Fälle aufnehmen.
Wie vielen Kindern und Jugendlichen können Sie helfen?
Sehr vielen. Zumal die Chancen, etwas zu bewirken, noch größer sind als bei Erwachsenen. Und wir haben einen sehr ganzheitlichen Ansatz: Kognitive Verhaltenstherapie, Beziehungsarbeit, Wissensvermittlung, das Einüben von bestimmten Handlungsweisen, Familienarbeit und – wenn notwendig – auch Medikamente. Weil es sich um schwere Erkrankungen handelt, ist zu Beginn der Therapie oft auch ein stationärer Aufenthalt notwendig, die Behandlungen sind aufwendig und zeitintensiv. Unsere Erfolgsquote bei Magersucht etwa liegt zwar bei 80 Prozent, aber 20 Prozent kann weltweit nicht wirklich nachhaltig geholfen werden. Deshalb sind wir ständig auf der Suche nach neuen Ansätzen.
Wie hoch ist der Prozentsatz jener, die eine Therapie erhalten?
Bei den „lauten“Störungen, die jedem auffallen, wie etwa ADHS, erhalten mehr als 60 % der Betroffenen eine Behandlung. Was alarmierend ist: Bei den stillen Störungen – Kindern mit suizidalen Verhaltensstörungen, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Angststörungen – liegt die Behandlungsquote bei maximal 25 %. Diese fallen lange nicht auf, in der Schule nicht und zu Hause nicht.
Was können Eltern tun?
Hinschauen, mit ihren Kindern in Kontakt bleiben, nicht nebeneinander, sondern miteinander leben. Das klingt banal, passiert aber oft nicht. Natürlich ist es oft schwierig zu erkennen, welche Veränderung im Jugendalter ganz normal ist, welche krankhaft sein könnte. Gerade deshalb ist der regelmäßige Austausch so wichtig. Und wenn ein Kind bereits erkrankt ist, geht ohne Mithilfe der Eltern gar nichts. Wir haben ein Workshop-Programm für Eltern entwickelt, in dem wir ihnen zunächst vermitteln, dass sie nicht schuld an der Erkrankung ihres Kindes sind. Und wir schulen sie in Fertigkeiten zum Umgang mit der Erkrankung ihres Kindes und zur Bewältigung der eigenen schwierigen Situation. Positiv ist auch, dass die Stigmatisierung zurückgegangen ist. Früher waren unsere Kinder die Komischen, die Schlimmen . Heute sehen doch viele, dass es sich um Kinder mit wirklich schweren Erkrankungen handelt, die Hilfe und intensive therapeutische Begleitung benötigen. Langfassung: kurier.at/gesund