Kurier (Samstag)

Der Tag der kackenden Möwe

Bachmann-Preis, 2. Tag. Starke Texte über einen Genozid, Drogen in Mexiko und ein Mietshaus

- VON GUIDO TARTAROTTI

Der – sehr muntere – zweite Tag beim Wettlesen in Klagenfurt wurde vom ersten männlichen Autor des heurigen Wettbewerb­s eröffnet, von Yannic Han Biao Federer aus Köln. Sein Text dreht sich um eine Trennung, schildert viele kleine Beobachtun­gen und macht den Autor selbst zur Figur.

Bemerkensw­ert ist auch das Ende: Zuerst kackt eine Möwe dem Autor in die Sandale, dann lässt dieser sein eigenes Buch liegen, weil es ihn nicht interessie­rt.

Über dieses Ende stritt die Jury heftig. Stefan Gmünder fand es „nachgerade genial“, Klaus Kastberger sah „gar kein Ende“. Jury-Vorsitzend­er Hubert Winkels nannte das Spiel mit den Identitäte­n eine „Selbst-Irrealisie­rung“, Nora Gomringer ortete „Zärtlichke­itsstruktu­ren“.

Klaus Kastberger fasste die lebhafte Debatte mit dem Satz zusammen: „Noch nie zuvor in der Literatur hat eine kackende Möwe in Cuxhaven so viel geleistet.“

Ein fallender Stein

Der zweite Text raubte dem Publikum den Atem. Die Journalist­in und Autorin Ronya Othmann aus Leipzig schildert in einer reportagea­rtigen Erzählung eine Reise ins Kurdengebi­et und erzählt von Verbrechen des IS. Gleichzeit­ig handelt der Text von der Suche nach der Sprache für das Unsagbare.

Die Jury zeigte sich beeindruck­t. Inka Wilke: „Ein Text, der wie ein Stein in uns hineinfäll­t.“Hubert Winkels sagte: „Hauptthema ist die Sprachlosi­gkeit.“Stefan Gmünder stimmte zu: „Wie geht man mit dem Unsagbaren um? Wenn man darüber schreiben kann, dann kann man es so tun.“

Als Nächste las die Österreich­erin Birgit Birnbacher, studierte Soziologin. Ihr Text schildert anhand der Vorgänge in einem Mietshaus prekäre Lebens- und Arbeitsver­hältnisse. Es gibt eine missglückt­e MutterToch­ter-Beziehung, einen geheimnisv­ollen Beobachter – und am Ende verschwind­et die Autorin in einemSchra­nk.

Die Jury – bei der Nora Gomringer hitzebedin­gt ausfiel – war sich einig wie selten: Der Text ist „gelungen in jeder Hinsicht“(Hildegard Keller). Keller beschrieb die Erzählung als „Mikrokosmo­sStudie“. Michael Wiederstei­n hätte gerne „noch eine Stunde länger“zugehört.

Insa Wilke fand den Text „so beeindruck­end, weil er zeigt, wie wunderbar das Einfache sein kann“. Klaus Kastberger fand den Text sogar „cool“(und das war als Lob gemeint).

Die Jury fand außerdem Bezüge zu Samuel Beckett, Franz Kafka, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann. Fazit: Hier zeigte sich klar eine erste Favoritin.

Barocker Lucky Luke

Am Nachmittag begann der meist diskutiert­e Kandidat des Wettlesens. Der Berliner Daniel Heitzler, Barkeeper, Journalist und Student der Literaturw­issenschaf­ten, hatte bisher noch keinen Text veröffentl­icht. Seine Erzählung führte nach Mexiko, in die Welt schwierige­r Männerbezi­ehungen und mysteriöse­r Rituale. Heitzler erwies sich als Freund blumiger Formulieru­ngen, so beschrieb er Drogengebr­auch so: „Hier werden sanft kosmische Klöten betastet.“

Klaus Kastberger kritisiert­e die Trägheit des Textes: „Ich hoffe, es ist niemand weggekippt.“Insa Wilke fühlte sich vom Tempo an „Koalitions­verhandlun­gen“erinnert und urteilte: „Eine Mischung aus Beckett und Lucky Luke.“Michael Wiederstei­n wiederum verglich den Text mit Woody Allen – „der ganze Witz geht gut auf“. Stefan Gmünder nannte den Text „ein schönes Erlebnis“. Hildegard Keller beschrieb die Sprache als „barock“.

Der letzte Autor des zweiten Tages war der Schweizer Journalist und Schriftste­ller Tom Kummer (dem vorgeworfe­n wurde, es in seinen Reportagen mit der Wahrheit nicht genau genommen zu haben). Sein Text ist eine Art Road Movie über einen einsamen Chauffeur, den bei seinen nächtliche­n Fahrten Gedanken, Visionen und Begierden plagen.

Der gebürtige Schweizer Stefan Gmünder urteilte: „Die Schweiz als Geisterlan­d – toll!“Klaus Kastberger fühlte sich an Zigaretten-Werbeästhe­tik erinnert und kritisiert­e „zuviel Pathos“und „blasierte Gesten“. Hubert Winkels ortete eine „PopOberflä­chen-Ästhetik“und „eine gewisse Chandler-Noirhaftig­keit“.

Am Samstag geht es um 10.00 Uhr weiter, 3Sat überträgt live.

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Klagenfurt­er Wettlesen: Die österreich­ische Autorin und Soziologin Birgit Birnbacher gefiel mit einem Text über Mietshaus-Mysterien

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