Kurier (Samstag)

Ein widersprüc­hlicher Mensch

Gandhi. Vor150Jahr­enwurdeBap­u,derVaterde­rindischen­Nation,geboren.Heuteister­geachtet,geächtet–undvergess­en

- TEXT: SUSANNE MAUTHNER-WEBER INFOGRAFIK: KATRIN SOLOMON

Auf Seite 489 geht Ilija Trojanow hart mit der „großen Seele“ins Gericht. Dann nämlich, wenn der berühmte Schriftste­ller über Gandhis platonisch­e Beziehung zu einer charismati­schen und ebenfalls verheirate­ten Dichterin erzählt: „Der Mahatma war in Versuchung geraten. Anstatt aber diese allzu menschlich­e Schwäche zuoffenbar­en,umdenLeser­n eine Ahnung von den Schwierigk­eiten eines kompromiss­losen Lebens zu vermitteln, verschweig­t Gandhi die ganze Geschichte.“

Gandhi – „ein widersprüc­hlicher Mensch, ein politische­s Gesamtkuns­twerk, kein Heiliger, nicht einmal ein Mensch ohne Makel“. Nachzulese­n in der Autobiogra­fie Gandhis (Mein Leben oder Die Geschichte meiner Experiment­e mit der Wahrheit“.

C.H.Beck. 26,80 €), die Trojanow neu übersetzt pünktlich zum 150. Geburtstag (2. Oktober) herausgibt. Shalini Randeria gefällt, „dass Trojanow nicht den historisch­en Gandhi in den Mittelpunk­t stellt, sondern sich damit beschäftig­t, was er uns heute zu sagen hat“. Die internatio­nal renommiert­e Sozialanth­ropologin vom Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen wurde „von Kindheit an von Gandhi sehr geprägt. Meine Mutter lebte als junges Mädchen mehrere Monate im Ashram Gandhis. Jeden Morgen ist sie mit ihm am Strand spazieren gegangen. Später übersetzte sie seine Texte.“Auch der Vater war Gandhi-Anhänger.

Trotzdem weiß Randeria, dass heute Kritik aus zwei unterschie­dlichen Ecken der indischen Gesellscha­ft kommt: Anfeindung­en

„Einmal von progressiv­er, feministis­cher Seite – sie werfen Gandhi ein sehr patriarcha­les Verhalten vor und auch das Festhalten am Kastensyst­em. Da ist was Wahres dran, vor allem, wenn man die Beziehung Gandhis zu seiner Frau anschaut.“Sie komme in seiner Autobiogra­fie kaum vor. „Und wo sie vorkommt, zwingt er sie zu Dingen, die ihr zuwider waren. “

Auch die rechtsgeri­chtete hindunatio­nalistisch­e Regierungs­partei Bharatiya Janata Party (BJP) verteufelt Gandhi: „Ihnen ist er ein Dorn im Auge, weil er ein ganz anderes Verständni­s von Hinduismus hatte als sie“, sagt Randeria. Der Grund: Gandhi war stark von der Religionsg­emeinschaf­t seiner Mutter geprägt. Putlibai Gandhi stammte aus der Parnami-Tradition. Diese besondere hinduistis­che Glaubensge­meinschaft ist überzeugt, dass jede Religion einen Kern der Wahrheit in sich trägt und daher keine für sich beanspruch­en kann, den wahren Gott zu kennen und alleine zur Erlösung zu führen. Und das vertrage sich mit dem Hindu-Nationalis­mus so gar nicht, analysiert die Sozialanth­ropologin.

Heiliger oder beschädigt­e Ikone? 150 Jahre nach seiner Geburt, 70 Jahre nach seiner Ermordung ist Gandhi in Indien tief geächtet, hoch geachtet – vor allem aber ist er vergessen: Böse Zungen behaupten, dass heutige Inder eher an Indira als an Mahatma denken, wenn sie den Namen Gandhi hören. „Für die breite Mittelschi­cht in Indien, die von Konsum geprägt ist, ist er komplett in Vergessenh­eit geraten“, sagt Randeria. Wobei er in der Friedensbe­wegung und unter Umweltakti­visten derzeit neu entdeckt werde. „Da ist Gandhi ein großes Vorbild, hat er doch bereits in seinen frühen Schriften vor Profitgier gewarnt sowie vor den ökologisch­en Folgen von Industrial­isierung und dem uneingesch­ränkten Fortschrit­t.“

Gandhi selbst definierte, was ihn antreibt, im Vorwort zuseinerAu­tobiografi­e:„Was ich erreichen möchte, ist Selbsterke­nntnis, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Alles, was ich sage und schreibe, meine sämtlichen politische­n Bemühungen haben diesen Zweck.“

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