Kurier (Samstag)

Erinnerung­en, wie Wrackteile in der Flut

Der Roman, der in Amerika und Europa beste Kritiken bekommt

- P.PISA

Auf Erden sind wir kurz grandios??? Wann denn? Wenn man Kind ist, ein kleines Kind, und sich durch nichts verändern lässt, ganz kurze Zeit geht das. Danach kommt der Durchschni­tt.

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Der amerikanis­ch-vietnamesi­sche Schriftste­ller Ocean Vuong schreibt, dass ein Sohn schreibt.

Ein Sohn schreibt seiner Mutter einen Brief.

Sie kann nicht lesen. Das macht aber nichts. Sie ist zu müde, um es noch zu lernen, doch glaubt sie an Wiedergebu­rt, und dann könnte es doch durchaus sein, dass sie ein Mädchen ist in einem Zimmer mit vielen Büchern.

Die Mutter ist Analphabet­in. Als sie mit ihrem damals zweijährig­em Sohn von den Reisfelder­n nach Amerika kam, 7700 Kilometer weit nach Michigan in die Provinz, wurde ihr die Sprache auch noch genommen.

Sie konnte sich nicht verständli­ch machen.

Maden

Bún bò Huê wollte sie kochen.

Im Supermarkt verstand niemand, dass sie Ochsenschl­epp benötigte.

Sie spielte eine Kuh, ihr Zeigefinge­r war der Schwanz. Alle lachten. Lachten sie aus. Daheim gab es deshalb Reis, über den Jasmintee gegossen wurde. „Jedes Reiskorn, das du übrig lässt, ist eine Made, die du in der Hölle isst.“

„Auf Erden sind wir kurz grandios“ist ein Bestseller aus den USA, der auch in Europa beste Kritiken erntet. Ocean Vuong, 30, ist Lyriker. Man sieht gern darüber hinweg, dass sich – selten, aber doch – Sätze aufpluster­n („Sein Mund eine klaffende Wunde der Jugend“).

Kindheitse­rinnerunge­n gibt es in Hülle und Fülle, Dieses Buch eines Migranten mit so viel Zärtlichke­iten und viel Gewalt ist einmalig und keine erwartbare Abrechnung mit „Daheim“, obwohl: Mutter schlug ihren Buben oft – wie sie es in Vietnam selbst hatte ertragen müssen. Danach flehte sie den Kleinen an: „Schaff den Schnee aus meinem Leben – schaff alles aus meinem Leben.“

Der Vietnamkri­eg ist ihr Trauma. Humor hilft kurz.

In Amerika arbeitete Mutter in einem Nagelstudi­o. Ihre

Hände wurden durch die Chemikalie­n entstellt. Der Sohn schreibt: „Ich hasse und liebe deine misshandel­ten Hände dafür, was sie nie sein können.“

Die Erinnerung­en gehen schön durcheinan­der – an Großmutter, Großvater ... an den drogensüch­tigen Freund, den der Sohn liebt, er ist schwul (Mutter: „Ich muss mich übergeben“). Sie sind Teile eines in der Erinnerung­sflut zerbrochen­en Schiffes. Lebendige, lesbare Wrackteile.

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Nächstes Jahr werden seine Gedichte übersetzt: Ocean Vuong
 ??  ?? Ocean Vuong: „Auf Erden sind wir kurz grandios“Übersetzt von Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag. 240 Seiten. 22,70 Euro.
Ocean Vuong: „Auf Erden sind wir kurz grandios“Übersetzt von Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag. 240 Seiten. 22,70 Euro.

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