Pflegekräfte im Dilemma
Rumänische Pflegekräfte zieht es ins EU-Ausland. Ihre Kinder bleiben oft alleine zurück
Rumänien. Für ihre Tätigkeit im Ausland müssen rumänische Pflegekräfte ihre Kinder zurücklassen.
Der rumänische Arbeitsmarkt braucht dringend Pflegekräfte. Die arbeiten wegen des höheren Lohns aber lieber in Österreich. Für den KURIER ein Grund, sich die Situation vor Ort anzusehen.
Schauplatz Bakowa, Westrumänien: Michael scheut den Blickkontakt, meistens schaut er auf seine zappelnden Beine. Aber ja, er beantwortet tapfer alle Fragen. Er mag Fußball, hat drei Geschwister – der kleinste Bruder ist ein Jahr alt –, und er würde gerne einmal Gebäude bauen. Welche? „Kirchen.“Warum? „Weil mein Papa auch Gebäude baut.“Zwar keine Kirchen, aber immerhin.
Den Vater vermisst der Neunjährige besonders, weil sich seine Eltern getrennt haben. Und seine Mutter vermisst er auch. Mama Kristina fährt nämlich regelmäßig nach Österreich, um dort Menschen zu pflegen. Ist Kristina nicht da, verbringt Michael die Zeit entweder bei seinen beiden arbeitslosen Tanten oder in der Kindertagesstätte „Casa Pater Berno“. Die wird von der Caritas geführt, im Dorf Bakowa, im westrumänischen Banat.
Die Tagesstätte übernimmt die Erziehungsarbeit. Hier soll Michael einen geregelten Tagesablauf lernen, sich auf die Schule vorbereiten. Mama Kristina vermisst ihre Kinder zwar, sieht die Sache aber pragmatisch: „Zuerst habe ich bei einem Wirt im Dorf gearbeitet, aber das Geld hat nicht gereicht.“
Als Pflegerin verdiene sie in Österreich etwa dreimal so viel wie in Rumänien. Über ihr Gehalt oder darüber, wie viel sie an ihre Agentur abtreten muss, will Kristina nicht sprechen. Nur so viel: Der Mindestlohn liegt in Rumänien bei 446 Euro. Kristina zuckt mit den Schultern „Alle machen das. Mein halbes Dorf arbeitet in Österreich.“
Michael ist von einem Phänomen betroffen. Er zählt zu den sogenannten „Euro-Waisen“. 159.000 Kinder wachsen in Rumänien mit keinem oder einem Elternteil auf. Die Erziehung übernehmen Verwandte, Tagesstätten oder Pflegemütter.
30 Prozent sind weg
Ja, die Situation in Rumänien war schon schlimmer. Bilder von halb verhungerten Straßenkindern, die in der Kanalisation übernachten, gehören der Vergangenheit an. Überfüllte Waisenhäuser mit vergitterten Fenstern auch. Im kommunistischen Regime von Nicolae Ceaușescu war das Normalität.
Bis 1989 war Kinderreichtum Pflicht – und Abtreibung strikt verboten. Das trieb nicht nur Waisen in die Heime. Die Armut war so groß, dass viele Mütter ihre Kleinen abgeben mussten. Nach der Revolution besserte sich das.
Heute ist Rumäniens größtes Problem die Arbeitsmigration. Zwischen 2015 und 2017 haben 620.000 Menschen Rumänien verlassen, um im EU-Ausland zu arbeiten. Vor allem in den strukturschwachen Regionen erlebt das Land einen Exodus. Insgesamt arbeiten 30 Prozent der rumänischen Bürger nicht in ihrer Heimat. Laut Schätzungen hat das Land dadurch 50 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verloren.
Ein Teufelskreis: In der Kinderbetreuung und vor allem in der Altenpflege sucht Rumänien händeringend Personal. Die Gesellschaft ist überaltert. Die Mindestpension
beträgt 275 Euro pro Monat. Um Pflegekräfte auf westeuropäischem Lohnniveau bezahlen zu können, müsste der Staat Schulden machen. „Wir haben in den vergangenen drei Jahrzehnten menschenwürdige Pflegestrukturen in Rumänien aufgebaut, die wir unter den jetzigen Bedingungen nicht aufrechterhalten können“, meint
András Márton, Direktor der Caritas Alba Iulia. Der Caritas-Ansatz mit kleinen Heimen und Betreuungsstätten mag richtig sein. Die CaritasInstitutionen vor Ort sind allerdings nicht repräsentativ. Geht das auch fair?
In gewissen Sektoren finanzieren sie sich nur zu 35 Prozent aus öffentlichen Geldern. Mitarbeiter werden relativ gut bezahlt. Ohne Finanzspritzen wird der rumänische Staat die Vorzeigestrukturen diverser NGOs nicht implementieren können.
Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich, identifiziert an dieser Stelle eine große Ungerechtigkeit: „Die Arbeitsmigration in der EU ist Realität und Ausdruck eines enormen Wohlstandsgefälles zwischen Ost- und Westeuropa.“Es brauche im sozialen Bereich „MaastrichtKriterien“. Diese Forderung stellt die Caritas schon lange und feilt an einem Modell der „Fair care migration“– also gemeinsame, europaweite Standards für die Entlohnung im Pflegebereich. Auf europäischer Ebene deutet sich ein solcher Wandel allerdings nicht an. Kristinas Arbeitsort dürfte Österreich bleiben.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer teilfinanzierten Pressereise der Caritas.