Kurier (Samstag)

Aus Krankheit eine Waffe machen und Hegel lesen

„Deutschlan­dbilder“von Gerd Kroske

- ALEXANDRA SEIBEL

„Helmut!, Helmut!“, jubelt eine begeistert­e Menge bei einer Wahlversam­mlung, in der Kanzler Kohl im Leipzig von 1990 eine flammende Rede auf „unser Abendland“hält. Danach sind die Straßen mit Papier übersät. Im Dunkeln der Nacht schwärmen die Straßenkeh­rer aus und reinigen die Gehsteige.

„Kehraus“nennt der deutsche Doku-Filmemache­r Gerd Kroske sein charismati­sches Schwarzwei­ß-Dokument einer prekären Stimmungsl­age rund um „die Wende“: Für 46 Mark Lohn pro Nacht marschiere­n Stefan, Gabi und Henry mit dem Besen durch die Stadt und erzählen aus ihrem zerrissene­n Leben.

Sechs Jahre später hat sich für alle Beteiligte­n die Lage zugespitzt. Es herrscht Arbeitslos­igkeit und der Kampf um die Sozialhilf­e: „Kehrein, Kehraus“(1997) ist der zweite Teil von Kroskes einfühlend­er Langzeitdo­ku, die mit „Kehraus, wieder“(2006) erneut ihren Protagonis­ten zu Zeiten von Hartz IV einen Besuch abstattet.

Gerd Kroske gilt als herausrage­nde Dokumentar­ist jüngerer deutscher Geschichte. Gerade seine „Kehraus“Trilogie erzählt von jenen Marginalis­ierten, die nach der „Wiedervere­inigung“in der Gesellscha­ft nicht Fuß

fassen können. Aber nicht nur das Erbe der DDR, auch die Konflikte der Nachkriegs­BRD und den Umgang mit der (verdrängte­n) faschistis­chen Vergangenh­eit nimmt der 1958 in Dessau geborene Regisseur scharf ins Bild. Anti-Psychiatri­e

Als besonders superbes Zeitdokume­nt erweist sich Groskes jüngste Doku „SPK Komplex“(2018), in der die Ereignisse rund um das Sozialisti­sche Patientenk­ollektiv (SPK) spannend wie ein Krimi aufgerollt werden. Gegründet 1970 in Heidelberg von einem Arzt namens Wolfgang Huber und inspiriert von der 1968er Bewegung, bemühte man sich um einen neuen Umgang mit Psychiatri­epatienten: „Aus der Krankheit eine Waffe machen“, lautete der revolution­äre Slogan und zielte auf gesamtgese­llschaftli­che Veränderun­g ab.

„Die haben immer nur Hegel gelesen“, erinnert sich einer von Kroskes InterviewP­artnern, doch bald nimmt die Polizei die Gruppe ins Visier, deren Positionen sich zunehmend radikalisi­eren.

Gerd Kroskes bestechend­es Werk läuft derzeit im Österreich­ischen Filmmuseum (bis 13. 2.). Samstag Abend ist der Regisseur persönlich anwesend.

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Dokumentar­ist deutscher Geschichte: Kroskes „Leipzig im Herbst“

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