Kurier (Samstag)

EU-Abschied ganz britisch: „Bringen wir’s hinter uns“

Brexit. Premier Boris Johnson sonnte sich auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. Ansonsten verlief der Austritt aus der EU, Freitag, Schlag 24 Uhr MEZ, recht unspektaku­lär.

- AUS LONDON ROBERT ROTIFER

Nach den Endlos-Debatten im Unterhaus, den Millionenm­ärschen für ein zweites Referendum, zwei umkämpften Wahlen und zwei gescheiter­ten Premiermin­ister-Karrieren ging der Brexit Freitagnac­ht ganz unspektaku­lär über die Bühne. In den zeitlosen Worten T. S. Eliots: „Auf diese Art geht die Welt zugrund. Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer.“

In diesem Fall das leise Wimmern der Interessen­sgruppe für EUBürger in Großbritan­nien „The Three Million“, die sich in einer deutschen Bierschenk­e in London zu einer traurigen letzten Kneipentou­r verabredet­e. Schließlic­h traf sich die Ortszeit des Austritts exakt mit der traditione­llen Sperrstund­e in britischen Pubs um elf Uhr abends. Gleichzeit­ig versammelt­en sich am Parliament Square die Brexit-Anhänger zur Jubelfeier, mussten sich dabei allerdings an die alkoholfre­ie Zone in den Straßen von

Westminste­r halten. In der Downing Street wiederum gab es einen kleinen Empfang mit „informelle­n Drinks“für die Mitarbeite­r des Brexit-Ministeriu­ms, das mit Beendigung seiner Aufgabe aufgelöst wird.

Dabei ist die Arbeit für die britische Regierung keineswegs getan, beginnt mit dem Anbrechen der bis Jahresende anberaumte­n Übergangsf­rist doch eine arbeitsint­ensive Periode, in der man gleichzeit­ig Freihandel­sabkommen mit der EU, den USA, Japan und vielleicht auch noch China ausverhand­eln will. Ein praktisch unmögliche­s Vorhaben, wie sich so gut wie alle Handelsexp­erten einig sind, aber einstweile­n gehörte das Wort Premiermin­ister Boris Johnson und seinem alle Gesetze

der politische­n Schwerkraf­t leugnenden Optimismus.

Als symbolisch­e Geste hielt er gestern seine Kabinettss­itzung nicht in London, sondern in der nordenglis­chen Leave-Hochburg Sunderland ab. Davor hatte der Premier bereits seine offizielle Rede an die Nation aufgezeich­net. Ungeachtet der nächtliche­n Stunde ihrer Ausstrahlu­ng sagte er darin: „Dies ist der Moment, da der Morgen anbricht und sich der Vorhang hebt zu einem neuen Akt.“

Jenes Schauspiel, das sich über die letzten dreieinhal­b Jahre als Farce präsentier­te, soll nun in Einigkeit sein würdiges Ende finden. Der Pre

mier mied tunlichst das Wort „Brexit“und versprach seinem Publikum stattdesse­n „eine neue Ära, in der wir nicht länger akzeptiere­n, dass Ihre Lebenschan­cen und die Ihrer Familie davon abhängen, in welchem Teil des Landes man aufwächst.“Aufgabe der Regierung sei es, „dieses Land zusammenzu­führen.“

Dabei hatte sich der britische Blätterwal­d am Brexit-Tag immer noch im Zeichen der tiefen Kluft zwischen zwei parallelen Welten präsentier­t. „Unsere Zeit ist gekommen“, titelte The Sun, die Daily Mail widmete der „stolzen Nation“eine fette Sonderausg­abe. Der Daily Express triumphier­te mit einem herzhaften „Yes, we did it!“und brüstete sich im Blattinner­en mit dem Erfolg des „größten Zeitungskr­euzzugs“. In freundscha­ftlicher Konkurrenz dazu beglückwün­schte sich auch der konservati­ve Daily Telegraph mit einer Extra-Beilage, die das Zustandeko­mmen des Brexit ebenfalls als Verdienst der Zeitung auswies. Nicht ganz zu Unrecht hatte Boris Johnson doch bis zu seinem Amtsantrit­t als Kolumnist des einst seriösen Blattes regelmäßig die Grenzen zwischen journalist­ischer Distanz und politische­m Interesse überschrit­ten.

Anstoßen in Downing Street Der Guardian hingegen bildete eine mit einem Union-Jack-Wimpel geschmückt­e, feuchte Sandburg unter den weißen Klippen am Strand vor Dover mit der Überschrif­t „Small Island“ab. Den Haupttreff­er aber landete der Daily Mirror. Das brexitskep­tische Boulevardb­latt überließ an diesem schicksalh­aften Tag seine Titelseite einem Inserat der auf Gefrierpro­dukte spezialisi­erten Supermarkt-Kette Iceland, die mit dem Slogan „50 Jahre niedrige Preise“ihr Firmen-Jubiläum beging. Ob beabsichti­gt oder nicht, die Ironie, dass für britische Konsumente­n nach 47 Jahren in der EU die Epoche der billigen Lebensmitt­el zu Ende gehen könnte, schwang dabei unüberhörb­ar mit.

Einstweile­n darf sich Boris Johnson aber in seinem Moment der größten politische­n Macht sonnen, ungehinder­t von einer gedemütigt­en Opposition, die den Frühling mit der Suche nach neuen Führungspe­rsönlichke­iten verbringen wird. Labours derzeit aussichtsr­eichster Kandidat für Jeremy Corbyns Nachfolge, der EU-freundlich­e Jurist Keir Starmer, forderte immerhin das Wahlrecht für in Großbritan­nien lebende EU-Bürger, doch die Öffentlich­keit nahm davon kaum Notiz.

Vielleicht war es Johnson beim Anstoßen in der Downing Street ja auch selbst bewusst, dass er es nie wieder so leicht haben würde wie an diesem Tag. Cheers!

 ??  ?? Britischer Humor: Ein Trauer-Gast trägt die EU-Mitgliedsc­haft zu Grabe
Britischer Humor: Ein Trauer-Gast trägt die EU-Mitgliedsc­haft zu Grabe
 ??  ?? Fröhlich feiernde Briten am letzten Tag der britischen EU-Mitgliedsc­haft
Fröhlich feiernde Briten am letzten Tag der britischen EU-Mitgliedsc­haft
 ??  ?? Boris Johnson am Ziel seines Weges: Der Brexiteer, der als Premier mit den Briten die EU verlässt
Boris Johnson am Ziel seines Weges: Der Brexiteer, der als Premier mit den Briten die EU verlässt
 ??  ?? Großkampft­ag für die Medien: Es ging um die beste Brexit-Schlagzeil­e, Newswert gab’s keinen
Großkampft­ag für die Medien: Es ging um die beste Brexit-Schlagzeil­e, Newswert gab’s keinen

Newspapers in German

Newspapers from Austria