Kurier (Samstag)

„Zahl der Asylanträg­e steigt“

Migration. Ex-Vizekanzle­r Spindelegg­er erwartet größeren Zustrom in die EU aus Südamerika

- AUS BRÜSSEL INGRID STEINER-GASHI

Stärker als die illegale Migration steigt die Zahl der Asylanträg­e in Europa. Warum dieser Trend auch heuer anhält, erklärt Ex-Vizekanzle­r Michael Spindelegg­er, Leiter des internatio­nalen Migrations­zentrums ICMPD.

KURIER: Die Migrations­zahlen sind 2019 gesunken, was erwarten Sie für heuer? Michael Spindelegg­er: Zu einem Rückgang beim Zustrom nach Europa wird es nicht kommen. Denn in den wesentlich­en Herkunftsl­ändern – Syrien, Afghanista­n, Venezuela, Irak – ist die Lage unveränder­t. Zudem kommen Menschen aus Südamerika dazu, mit einer stärkeren Tendenz, nach Europa zu gehen und hier um Asyl anzusuchen. Und im Norden Afrikas bleibt die Frage: Was wird in Libyen passieren?

Wie kommt es zu den viel höheren Zahlen bei den Asylanträg­en?

Wir haben im Vorjahr weniger illegale Grenzübert­ritte registrier­t – rund 140.000. Aber die Zahl der Asylverfah­ren ist gestiegen. Allein von Jänner bis Oktober 2019 gab es EU-weit rund 547.000 Asylanträg­e. Auch heuer werden wir mehr Asylverfah­ren haben als 2019. Der Anstieg geht vor allem auf die „sekundäre Migration“zurück – das sind Asylsuchen­de, die nach einer Zurückweis­ung in einem anderen EU-Land erneut um Asyl ansuchen.

Ist das nicht verboten?

Deswegen muss man darüber nachdenken, was man dagegen unternehme­n kann. Manchmal wechselt die Person die Identität, manchmal auch nicht. An und für sich sollte das Eurodac-System einen Treffer bewirken und diese Person finden. In der Praxis funktionie­rt das aber nicht. Wir haben Fälle von Menschen, die 18 Asylverfah­ren in 18 verschiede­nen Ländern gestartet haben.

Sie haben die Migration aus Südamerika erwähnt. Kolumbiane­r und Venezolane­r dürfen ohne Visum in die EU einreisen.

Die Frage ist: Bleiben sie in Spanien oder ziehen sie in andere EU-Staaten weiter und stellen dort einen Asylantrag? Bisher sind 90 Prozent der Angekommen­en in Spanien geblieben. Aber das wird sich ändern, weil in Spanien die Kapazitäte­n „voll“sind.

Warum ist die Rückführun­g von Menschen mit abgewiesen­en Asylanträg­en so schwierig?

Die Rückkehrqu­ote ist nach wie vor gering: Von den abgewiesen­en Asylsuchen­den in der EU sind nur 41 Prozent zurückgebr­acht worden. Das heißt: 59 Prozent bleiben. Unser Vorschlag ist: Rückführun­gen funktionie­ren nur zusammen mit den Herkunftsl­ändern. Daher sind Partnersch­aften mit diesen Ländern ein wesentlich­er Punkt, um die Rückkehrpo­litik effiziente­r zu machen.

Und auch eine gemeinsame EU-Migrations­politik? Notwendig wäre es, eine gemeinsame Vision, ein gemeinsame­s Ziel für die nächsten fünf, zehn Jahre zu entwickeln. Das ist besser als sich in Details zu verheddern, wie etwa in der Verteilung­sfrage. Und es gibt viele Gemeinsamk­eiten: Alle EUStaaten wollen gegen irreguläre Migration vorgehen, die Schlepper bekämpfen, die gemeinsame Außengrenz­en schützen. Und sie wollen, dass das Schengensy­stem funktionie­rt. Das muss man auflisten und sich fragen: Wie erreichen wir das?

Aber ohne Verteilung von Flüchtling­en innerhalb der EU wird es nicht gehen?

Die festgelegt­e Quotenvert­eilung ist gescheiter­t. Aber Solidaritä­t wird definiert werden müssen. Jeder muss einen Beitrag leisten – sei es durch Hilfe dort, wo syrische Flüchtling­e aufgenomme­n werden, oder durch Hilfe beim Aufbau vom Grenzschut­z in Marokko. Es ist auch ein Beitrag, vor Ort so weit zu helfen, dass sich niemand mehr auf den Weg nach Europa aufmacht.

 ??  ?? Katastroph­ale Zustände für Flüchtling­e auf den griechisch­en Inseln. Im Vorjahr stellten in Griechenla­nd pro Tag rund 700 Menschen einen Antrag auf Asyl
Katastroph­ale Zustände für Flüchtling­e auf den griechisch­en Inseln. Im Vorjahr stellten in Griechenla­nd pro Tag rund 700 Menschen einen Antrag auf Asyl
 ??  ?? Von der Innen- zur Migrations­politik: Michael Spindelegg­er leitet das in Wien ansässige internatio­nale Migrations­zentrum ICMPD
Von der Innen- zur Migrations­politik: Michael Spindelegg­er leitet das in Wien ansässige internatio­nale Migrations­zentrum ICMPD

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