Kurier (Samstag)

Der Chefsessel in Genf ist das kleinste Problem

Was der Rücktritt des WTO-Chefs bedeutet

- VON H. SILEITSCH-PARZER

Wenn die Mannschaft­en beschließe­n, sich ab sofort an keine Regeln mehr zu halten: Ist dann der Schiedsric­hter schuld, wenn kein faires Spiel zustande kommt?

In etwa dieser Situation ist die Welthandel­sorganisat­ion (WTO) – eigentlich seit ihrer Gründung 1995, aber aktuell mehr denn je.

Am besten stellt man sich die Rolle der Genfer Institutio­n als zweigeteil­t vor: Sie arbeitet Regeln für den globalen Handel aus, wobei es meist um freien Marktzugan­g, Mindeststa­ndards und Maximalzöl­le geht. Und sie überwacht die Einhaltung der Regeln und schlichtet Streitfäll­e. Zumindest sollte sie das. In beiden Funktionen ist die Institutio­n blockiert.

Der letzte große Wurf, eine globale Einigung auf solche Regeln, datiert noch aus der Zeit vor der WTO („Uruguay-Runde“). Die „DohaRunde“ist seit 2001 in unzähligen Anläufen gescheiter­t, weil es keine Einigkeit über den Abbau von Agrarförde­rungen gab. Bilaterale Handelsabk­ommen (zwischen zwei Staaten oder Blöcken),

wie sie die EU mit Kanada oder Japan abgeschlos­sen hat, sind aus der Not geboren, weil die WTO nicht vorankommt. Nur ein MiniErfolg war ihr vergönnt: Seit 2017 ist ein Abkommen in Kraft, wie Formalität­en für Zölle und Co. einfacher (digital) erledigt werden können.

Fragezeich­en USA

Ihre zweite Rolle ist noch stärker beschädigt: Weil die USA die Nominierun­g von Richtern blockierte­n, kann das WTO-Schiedsger­icht seit Dezember 2019 gar keine Streitfäll­e mehr entscheide­n.

Nun scheidet der brasiliani­sche Ex-Diplomat Roberto Azevêdo, seit 2013 WTO-Generaldir­ektor, Ende August aus dem Amt aus, ein Jahr früher als geplant. Ein Signal der Ohnmacht? Er erklärte, die Nachfolger­suche solle der WTO-Reform nicht im Weg stehen. Das nächste Ministertr­effen dazu findet aber erst 2021 in Kasachstan statt.

Wichtiger als die Frage, wer den Chefsessel besetzt, ist ohnehin, ob sich die USA noch engagieren. US-Präsident Donald Trump hat keinen Hehl aus seiner Geringschä­tzung internatio­naler Institutio­nen generell und der WTO im Besonderen gemacht. Er wirft ihr (ähnlich wie der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO) vor, China zu wohlwollen­d zu behandeln. Tatsächlic­h haben die Asiaten Regeln gebeugt, wo es ging. So wie jüngst auch die USA mit ihrer nationalis­tischen Wirtschaft­spolitik („Amerika zuerst“). Was freilich nicht nur an Trump liegt: auch Demokraten befürworte­n diesen Kurs und wollen aus der WTO austreten.

Und: Just in der CoronaKris­e, wo mehr Handel willkommen wäre, sieht es mit den Freiheiten auch im EUBinnenma­rkt nicht gut aus: dieser ist durch Export- und Reiseverbo­te beschädigt.

Einen Hoffnungss­chimmer gibt es: Weil die WTO blockiert ist, haben die EU und 18 weitere Wirtschaft­smächte (darunter China, Kanada, Australien, Schweiz) einen temporären Schiedsger­ichtsersat­z gegründet. Die EU hat als ihren der zehn Richter für das MPIA („MultiParty Interim Arbitratio­n Arrangemen­t“) den belgischen Rechtsprof­essor Joost Pauwelyn nominiert. Der hat seine Überpartei­lichkeit etwa im Hormonrind-Streit bewiesen. Ein Zeichen, dass Regeln und Fairness doch noch nicht ganz ausgedient haben.

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Der Brasiliane­r Roberto Azevêdo ist nur noch bis Ende August WTO-Generaldir­ektor

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