ES PRICKELT
Sex und Vergnügen gingen nicht immer Hand in Hand. Aber ein britischer Arzt setzte vor knapp 50 Jahren eine Revolution in Gang. Seither hat sich Erotik verändert – und bringt uns Spaß in neuen Dimensionen.
Man nannte ihn „Dr. Sex“. Alex Comfort, britischer Arzt, Autor, Poet, Pazifist und Aktivist. Heuer wäre er 100 Jahre alt geworden. Doch man erinnert sich kaum an seine Romane, Dramen, Gedichte oder wissenschaftlichen Arbeiten. Im kollektiven Gedächtnis ist sein Name ausschließlich mit einem Buch verbunden: „The Joy of Sex“. Vor knapp 50 Jahren erschien der „Gourmet Guide to Love Making“, wie's im Untertitel so schön hieß. Und auch wenn uns heute die Federzeichnungen des Illustrators brav erscheinen: Das war damals schon eine handfeste Revolution, die das globale Biedermannsdorf ins Wanken brachte.
Ein Leitfaden für besseren Sex, eine Anleitung für mehr Spaß im Bett? Das war in den 70ern, wenn man jetzt einmal von Pärchen, die in bunt bemalten VWBussen lebten und Fransenjacken trugen absieht, doch eine richtige Sensation. Über Günther Hunolds „Schulmädchen Report“, der 1970 als Aufklärungsbuch und -film getarnt, den Voyeur im freundlichen Herrn von nebenan bediente, wollen wir hier den
Beatrix Roidinger, „weil man seine Wünsche auch artikulieren sollte. Und das ist in einem System des Schweigens doch sehr schwer.“Das Schweigen wurde gebrochen. Auch dank Comforts Buch, das lässig im Bücherschrank zwischen dem Klimt-Bildband und John Updikes pikanten Betrachtungen des Sozialverhaltens der amerikanischen Ostküstenmittelschicht seinen Platz fand. 2008 kam es zu einer aktualisierten Version, in Zusammenarbeit mit der Psychologin Susan Quilliam.
Sex wird gesellschaftsfähig
Und schön langsam tat sich wirklich was. Beate Uhse wurde nach und nach gesellschaftsfähig, die legendäre „Dr. Ruth“Westheimer hatte ab 1980 einen fixen Sex-TalkSendeplatz in den USA, Lilo Wanders sprach im deutschen Privat-TV über „Wa(h)re Liebe“, Ernest Bornemann dozierte an der Salzburger Uni über Sex in allen Ausformungen, die peinlichen Dr. Sommer-Storys in der Bravo wurden abgelöst durch Aufklärungsbücher
wie „Make Love“(2012) der dänischen Psychologin Ann-Marlene Henning, die nur zwei Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wären.
„Heute ist zum Glück viel mehr möglich“, sagt Beatrix Roidinger, „wir dürfen ausprobieren, Dinge in Frage stellen, darüber sprechen. Wir können heute jede Seite ausleben, die wir in uns haben – und das ist eine wirklich tolle Errungenschaft.“Aber? „Ganz viele Leute haben echt ganz schlechten Sex“, sagt die Sexualtherapeutin sachlich.
Leistungssport?
Warum das so ist, erklärt sie natürlich auch schlüssig. Zum Einen ist es gerade der Overflow an jederzeit verfügbaren sexuellen Inhalten, der uns verunsichert. Bin ich groß, geil, experimentierfreudig genug, warum reagiert „sie“darauf nicht so wie die Frauen im Film, warum kann „er“nicht so lange – die Möglichkeiten des Nichtentsprechens sind endlos. Probleme, die für die ganz Jungen, die oft Pornos konsumieren, bevor sie das erste Mal Händchen halten, besonders akut sind. Aber durchaus auch auf Menschen einwirken, die prinzipiell genug Lebenserfahrung haben sollten. Einfach weil die gezeigten Bilder so stark sind, weil man, ganz ähnlich wie bei Werbefilmen, von denen man auch weiß, dass sie uns manipulieren sollen, ihnen ohne es verhindern zu können „glaubt“.
Und zum Anderen stecken wir auch 50 Jahre nach „Joy of Sex“in einer unsäglichen Sprachlosigkeit fest, die unser beziehungstechnisches Miteinander seit Generationen so mühsam macht. „Wenn er mich liebt, muss er wissen, was mich erregt. Nur wenn der andere ohne Worte herausfindet, was man braucht, ist es gut“, erklärt Beatrix
Roidinger die orgiastische Sackgasse, in der wir uns befinden. „Nein, muss er nicht, und sie auch nicht“, gibt sie auch gleich die Antwort. „Denn unsere Bedürfnisse stehen nicht auf unserer Stirn geschrieben. Wenn's mal einfach so klappt, ist es super und schön, aber sich darauf zu verlassen oder es einzufordern, bringt uns nicht weiter.“
Die Hauptsache: Spaß am Sex!
Das Wichtigste, um wirklich „Joy of Sex“zu erleben? „Wir müssen unsere eigenen Bedürfnisse erst einmal selbst kennenlernen!
Sex 1970: Der berüchtigte „Schulmädchen Report“gab sich offiziell als Aufklärungsfilm aus
Viele Klienten, vor allem Frauen, haben auf die Frage, was sie denn selbst mögen, was ihnen Freude macht, sie erregt, keine Antwort. Das soll er machen – ist noch immer eine weit verbreitete Einstellung“, erklärt die Sexualtherapeutin.
Und genau hier muss sich etwas ändern. Wissen, was man will. Lernen, es auch zu artikulieren. Aber auch auf ein Nein nicht beleidigt reagieren. Das sind laut Beatrix Roidinger die Eckpfeiler für guten Sex. Und damit auch für einen erderschütternden Orgasmus. „Den kann man lernen. Wie guten Sex auch. Das ist keine Zauberei.“Was uns hoffnungsvoll stimmen sollte: All die Paare oder Singles mit schlechten Erfahrungen und Problemen auf dem Weg zum Höhepunkt, die heute zu Experten und Therapeuten wie Beatrix Roidinger gehen, hätten, als vor 50 Jahren „Joy of Sex“erschien, niemanden gehabt, dem sie sich anvertrauen hätten können. In Wahrheit wären sie gar nicht auf die Idee gekommen, zu einem Therapeuten zu gehen, weil es eben so ist, wie es ist. Wenn's im Bett nicht klappt, dann klappt's eben nicht. Dann ist erstens ohnehin „sie“schuld, und zweitens spricht man darüber nicht, außer, um sich bei den Kumpels über Frauen an sich zu beschweren ... Und so gesehen, sind wir heute eigentlich schon ganz schön weit. Der Höhepunkt kann jederzeit kommen!