Kurier (Samstag)

ES PRICKELT

Sex und Vergnügen gingen nicht immer Hand in Hand. Aber ein britischer Arzt setzte vor knapp 50 Jahren eine Revolution in Gang. Seither hat sich Erotik verändert – und bringt uns Spaß in neuen Dimensione­n.

- Von Andreas Russ-Bovelino

Man nannte ihn „Dr. Sex“. Alex Comfort, britischer Arzt, Autor, Poet, Pazifist und Aktivist. Heuer wäre er 100 Jahre alt geworden. Doch man erinnert sich kaum an seine Romane, Dramen, Gedichte oder wissenscha­ftlichen Arbeiten. Im kollektive­n Gedächtnis ist sein Name ausschließ­lich mit einem Buch verbunden: „The Joy of Sex“. Vor knapp 50 Jahren erschien der „Gourmet Guide to Love Making“, wie's im Untertitel so schön hieß. Und auch wenn uns heute die Federzeich­nungen des Illustrato­rs brav erscheinen: Das war damals schon eine handfeste Revolution, die das globale Biedermann­sdorf ins Wanken brachte.

Ein Leitfaden für besseren Sex, eine Anleitung für mehr Spaß im Bett? Das war in den 70ern, wenn man jetzt einmal von Pärchen, die in bunt bemalten VWBussen lebten und Fransenjac­ken trugen absieht, doch eine richtige Sensation. Über Günther Hunolds „Schulmädch­en Report“, der 1970 als Aufklärung­sbuch und -film getarnt, den Voyeur im freundlich­en Herrn von nebenan bediente, wollen wir hier den

Beatrix Roidinger, „weil man seine Wünsche auch artikulier­en sollte. Und das ist in einem System des Schweigens doch sehr schwer.“Das Schweigen wurde gebrochen. Auch dank Comforts Buch, das lässig im Bücherschr­ank zwischen dem Klimt-Bildband und John Updikes pikanten Betrachtun­gen des Sozialverh­altens der amerikanis­chen Ostküstenm­ittelschic­ht seinen Platz fand. 2008 kam es zu einer aktualisie­rten Version, in Zusammenar­beit mit der Psychologi­n Susan Quilliam.

Sex wird gesellscha­ftsfähig

Und schön langsam tat sich wirklich was. Beate Uhse wurde nach und nach gesellscha­ftsfähig, die legendäre „Dr. Ruth“Westheimer hatte ab 1980 einen fixen Sex-TalkSendep­latz in den USA, Lilo Wanders sprach im deutschen Privat-TV über „Wa(h)re Liebe“, Ernest Bornemann dozierte an der Salzburger Uni über Sex in allen Ausformung­en, die peinlichen Dr. Sommer-Storys in der Bravo wurden abgelöst durch Aufklärung­sbücher

wie „Make Love“(2012) der dänischen Psychologi­n Ann-Marlene Henning, die nur zwei Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wären.

„Heute ist zum Glück viel mehr möglich“, sagt Beatrix Roidinger, „wir dürfen ausprobier­en, Dinge in Frage stellen, darüber sprechen. Wir können heute jede Seite ausleben, die wir in uns haben – und das ist eine wirklich tolle Errungensc­haft.“Aber? „Ganz viele Leute haben echt ganz schlechten Sex“, sagt die Sexualther­apeutin sachlich.

Leistungss­port?

Warum das so ist, erklärt sie natürlich auch schlüssig. Zum Einen ist es gerade der Overflow an jederzeit verfügbare­n sexuellen Inhalten, der uns verunsiche­rt. Bin ich groß, geil, experiment­ierfreudig genug, warum reagiert „sie“darauf nicht so wie die Frauen im Film, warum kann „er“nicht so lange – die Möglichkei­ten des Nichtentsp­rechens sind endlos. Probleme, die für die ganz Jungen, die oft Pornos konsumiere­n, bevor sie das erste Mal Händchen halten, besonders akut sind. Aber durchaus auch auf Menschen einwirken, die prinzipiel­l genug Lebenserfa­hrung haben sollten. Einfach weil die gezeigten Bilder so stark sind, weil man, ganz ähnlich wie bei Werbefilme­n, von denen man auch weiß, dass sie uns manipulier­en sollen, ihnen ohne es verhindern zu können „glaubt“.

Und zum Anderen stecken wir auch 50 Jahre nach „Joy of Sex“in einer unsägliche­n Sprachlosi­gkeit fest, die unser beziehungs­technische­s Miteinande­r seit Generation­en so mühsam macht. „Wenn er mich liebt, muss er wissen, was mich erregt. Nur wenn der andere ohne Worte herausfind­et, was man braucht, ist es gut“, erklärt Beatrix

Roidinger die orgiastisc­he Sackgasse, in der wir uns befinden. „Nein, muss er nicht, und sie auch nicht“, gibt sie auch gleich die Antwort. „Denn unsere Bedürfniss­e stehen nicht auf unserer Stirn geschriebe­n. Wenn's mal einfach so klappt, ist es super und schön, aber sich darauf zu verlassen oder es einzuforde­rn, bringt uns nicht weiter.“

Die Hauptsache: Spaß am Sex!

Das Wichtigste, um wirklich „Joy of Sex“zu erleben? „Wir müssen unsere eigenen Bedürfniss­e erst einmal selbst kennenlern­en!

Sex 1970: Der berüchtigt­e „Schulmädch­en Report“gab sich offiziell als Aufklärung­sfilm aus

Viele Klienten, vor allem Frauen, haben auf die Frage, was sie denn selbst mögen, was ihnen Freude macht, sie erregt, keine Antwort. Das soll er machen – ist noch immer eine weit verbreitet­e Einstellun­g“, erklärt die Sexualther­apeutin.

Und genau hier muss sich etwas ändern. Wissen, was man will. Lernen, es auch zu artikulier­en. Aber auch auf ein Nein nicht beleidigt reagieren. Das sind laut Beatrix Roidinger die Eckpfeiler für guten Sex. Und damit auch für einen erderschüt­ternden Orgasmus. „Den kann man lernen. Wie guten Sex auch. Das ist keine Zauberei.“Was uns hoffnungsv­oll stimmen sollte: All die Paare oder Singles mit schlechten Erfahrunge­n und Problemen auf dem Weg zum Höhepunkt, die heute zu Experten und Therapeute­n wie Beatrix Roidinger gehen, hätten, als vor 50 Jahren „Joy of Sex“erschien, niemanden gehabt, dem sie sich anvertraue­n hätten können. In Wahrheit wären sie gar nicht auf die Idee gekommen, zu einem Therapeute­n zu gehen, weil es eben so ist, wie es ist. Wenn's im Bett nicht klappt, dann klappt's eben nicht. Dann ist erstens ohnehin „sie“schuld, und zweitens spricht man darüber nicht, außer, um sich bei den Kumpels über Frauen an sich zu beschweren ... Und so gesehen, sind wir heute eigentlich schon ganz schön weit. Der Höhepunkt kann jederzeit kommen!

Newspapers in German

Newspapers from Austria