Kurier (Samstag)

Hanni Rützler, Trendforsc­herin

- VON INGRID TEUFL

Die Krise verändert uns in der Kulinarik, so die Expertin: Essenszeit­en geben Struktur, Nachhaltig­keit und Kreislaufd­enken werden wichtiger.

Der Lockdown hat auch ernährungs­technisch Perspektiv­en verschoben. „Für eine Trendforsc­herin sind das spannende Zeiten“, gesteht Ernährungs­wissenscha­fterin Hanni Rützler. Seit Jahren beobachtet sie Foodtrends in aller Welt und stellt im KURIER-Gespräch fest: „Auffällig war in den vergangene­n Wochen, dass weltweit noch nie so viele Menschen wie jetzt Zeit mit Essen und in der Küche verbracht haben.“

Es waren auch viele Männer darunter. „Vor 50 Jahren wären es wohl nur Frauen gewesen.“Auch interessan­t: „Die Anfragen in Suchmaschi­nen für Reis, Nudeln oder Gemüse kochen, sind durch die Decke gegangen.“

Essen sei in der CoronaZeit wirklich ein Strukturun­d Haltgeber im sozialen Raum geworden: Mahlzeiten haben den Tag strukturie­rt – eine interessan­te Erkenntnis für eine individual­isierte Gesellscha­ft, die plötzlich kaum mehr andere Taktgeber hat und das Haus nicht verlassen kann.“Zu sagen: So, jetzt machen wir Mittagspau­se, vielleicht sogar als Familie – das hat es für Teile der Bevölkerun­g schon lange nicht mehr gegeben.

Zuletzt hatten sich gerade im urbanen Raum, wo sich neue Strömungen oft früher manifestie­ren, klassische Essstruktu­ren aufgelöst. „Alles ist variabler geworden.“Rützler hatte das zuletzt mit dem Begriff „Snackifica­tion“umschriebe­n. Der Fokus liegt dabei auf kleinen Mahlzeiten, die nicht immer zur gleichen Zeit eingenomme­n werden. „Das hat jetzt deutlich an Fahrt verloren, zugunsten der strukturge­benden Kraft des Essens.“

Steht uns jetzt eine „neue Esskultur“bevor? Die gesamte Gesellscha­ft hat schließlic­h eine „Dekonstruk­tion des Alltags“, wie es Rützler nennt, erlebt. „Aus dieser Dekonstruk­tion gibt es kein Zurück mehr.“Anderersei­ts: „Der eigene Lebensstil ist ja auch in der Krise geblieben.“Viele Entwicklun­gen sind aber davon abhängig, wie sich die Arbeitswel­t entwickelt. „Sie ist starker Treiber für Entwicklun­gen.“Wenn als Folge der Krise mehr Arbeitnehm­er von zu Hause arbeiten werden, könnten einige jetzt gemachte Ess-Erfahrunge­n sich durchaus etablieren, glaubt die Expertin. „Wir werden vermutlich neue Arbeitskul­turen sehen, und diese sind auch prägend für unsere Esskultur.“

Was zukünftig stärkere Beachtung finden könnte, ist das Thema Nachhaltig­keit. „Die Do-it-yourself-Bewegung ist ja ursprüngli­ch ein urbanes Phänomen und kommt aus dem Genuss-Eck. Jetzt ist aber ein neues Kreislaufd­enken auf breiterer Ebene im Gange. Wenn wir uns da etwas mitnehmen würden, etwa in Richtung Abfallverm­eidung von Lebensmitt­eln wäre es eine Win-win-Situation für die Menschen und für die Umwelt.“

Neues Bewusstsei­n

Auch die Wertschätz­ung für Lebensmitt­el könnte als Folge von Corona wieder steigen. Kleinprodu­zenten, die bereits vorher lokale Netzwerke oder Webshops zum Vertrieb nutzten, registrier­ten extrem starke Nachfrage. Es geht auch um das eigene Erleben: Nur wer selbst kocht oder bäckt, weiß, wie viel Arbeit in einem Laib Brot steckt. Rützler ortet daher eine „Entfremdun­g von nur mehr im Supermarkt verpackten Sachen“– und großen Bedarf an Netzwerken. „Wer sich da einiges für die Zukunft mitnehmen möchte, kann jetzt die Fäden ziehen, um Gleichgesi­nnte zu finden. Da gibt es sehr viele kreative Köpfe, die schon viel tun.“

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Rützler: „Noch nie haben so viele Zeit mit Essen verbracht“

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