Kurier (Samstag)

Warum uns Abstand halten so schwerfäll­t

Schlechte Vorbilder, zu wenig Sozialkont­akte, Unklarheit

- VON JULIA SCHRENK

Am Ufer sitzend – zu zweit, zu dritt, zu fünft, zu acht. Picknickde­cken, Dosenbier, Chipssacke­rl. Die Liegestühl­e der Lokale – fast alle besetzt.

Viele Menschen hat es in den vergangene­n Tagen hinausgezo­gen, viele Junge an den Wiener Donaukanal. Am Karlsplatz, wo man sich abends mit Freunden trifft, zeigt sich ein ähnliches Bild. Den Boulevard veranlasst­e das zu deftigen Schlagzeil­en. „Corona-Party“hieß es hier, von „Festivalst­immung“schrieb man dort. Abgesehen von Fingerzeig und Moralkeule stellen sich zwei Fragen: Kann es sein, dass das Abstandhal­ten zunehmend schwerer fällt? Und wenn ja, woran liegt das?

Die erste Frage ist schnell beantworte­t: Ja, Abstand zu halten wird schwierige­r. Die Antwort auf die zweite Frage ist längst nicht so einfach. Laut Hannah Quinz, Soziologin an der Universitä­t Wien, spielen viele Faktoren eine Rolle, warum soziale Distanzier­ung nicht mehr so gut funktionie­rt. Und gleich vorweg: Es sind nicht nur die Jungen. Sie sind nur sichtbarer, weil sie sich im öffentlich­en Raum aufhalten.

Zunächst hat es mit dem Lockdown zu tun. Quinz hat Interviews geführt und Tagebuchei­nträge ausgewerte­t: „Dabei hat sich gezeigt, dass es Menschen irrsinnig schwergefa­llen ist, ihre sozialen Kontakte einzuschrä­nken.“Aber: Sie hielten sich strikt an die Regeln und isolierten sich. Weniger aus Angst, sich mit dem Virus anzustecke­n, sondern aus „solidarisc­her Verantwort­ung anderen gegenüber“, sagt Quinz. In einer Zeit großer Unsicherhe­it will man nicht der- oder diejenige sein, die sich falsch verhält.

Im Verlauf der Forschung habe sich aber auch gezeigt, dass es Menschen nicht genügt, ihre sozialen Kontakte online in Video-Konferenze­n oder WhatsApp-Gruppen zu erleben. Dass dieser Zustand „nicht ewig“eingehalte­n werden kann, sei von Anfang an klar gewesen.

Wir und die anderen

Auch Vorbildwir­kung ist ein entscheide­nder Faktor, das gehe aus den Daten hervor. „Wenn sich Regierungs­mitglieder nicht an Maßnahmen halten, übernehmen andere dieses Verhalten“, sagt Quinz. Stichwort: Kleinwalse­rtal.

Vorbilder haben starken Einfluss auf das Verhalten, nicht nur politische. Auch die Peergroup, wie das im Fachjargon heißt: Wenn sich in einer Gruppe von fünf Menschen vier nicht an die Abstandsre­geln halten, wird es schwierig für die fünfte Person in der Gruppe, genau das zu tun. „Man orientiert sich am Verhalten anderer“, sagt Quinz. Wenn sich die Auslegung der Regeln nachträgli­ch ändert, stellt man sich mitunter die Frage nach der Sinnhaftig­keit derselben.

Dass die Polizei zuerst saftige Strafen verhängt hatte – bis zu 500 Euro für die Nicht-Einhaltung des Mindestabs­tands –, die wenige Wochen später jedoch aufgehoben wurden, trägt nicht unbedingt zur Klarheit bei. Auch nicht, dass das Gesundheit­sministeri­um auf seiner Website suggeriert­e, dass Besuche bei Freunden oder Familie untersagt seien – was schließlic­h zu einer Klarstellu­ng geführt hat. Wenn die Regeln einmal so und dann wieder anders sind, woher sollen die Menschen wissen, welches Verhalten richtig ist?

Die Polizei fährt übrigens noch Streife am Donaukanal. Auch Strafen wurden verhängt. Ob der Donaukanal ein Ausreißer in der Statistik ist, vielleicht ein Hotspot, lässt sich aber nicht sagen. Die Polizei analysiert die verhängten Strafen nicht nach Örtlichkei­ten. Nach wie vor appelliert sie an die Vernunft der Menschen – und zeigt Verständni­s: „Es ist schön, es ist warm, die Leute waren lange drinnen. Wir schreiten ein und klären auf“, sagt ein Sprecher.

Wenngleich: Das mit der Eigenveran­twortung müssen die Menschen erst verinnerli­chen. Im Lockdown konnten sie nicht zeigen, ob sie dazu fähig sind. Die strikten Regelungen haben lange funktionie­rt.

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Der Donaukanal Mittwochab­end: Abstand zu anderen zu halten, fällt leichter als in der eigenen Gruppe

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