Ein Anfang in Not, Hunger und Elend
Der Krieg war vorbei, doch in Österreich sollten noch lange Elend und Not herrschen. Wie war die soziale Lage in den ersten Monaten und Jahren tatsächlich? Rückblick auf ein zerstörtes Land
Es sind wohl die Schlüsselworte dieser ersten Nachkriegsmonate – doch sie sind, so wie sie viele Österreicher auch heute noch im Gedächtnis tragen, eine Fälschung. ErstkurzvorseinemTod1965sollte Leopold Figl in einem Wiener Tonstudio noch einmal jene „Weihnachtsansprache“halten, wie sie damals 1945 aus dem Radio gekommen war. Figl, schon schwer krank, kramte mithilfe des Journalisten Hans Magenschab in seinen Erinnerungen. Die Rede selbst war nämlich nicht erhalten geblieben. Magenschab
Wohnungen oder Häuser in ganz Österreich waren vollständig zerstört oder zumindest unbewohnbar.
Kubikmeter Schutt
Millionen Flüchtlinge sollte schließlich jene Sätze formulieren, die österreichische Zeitgeschichte werden sollten: „Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen ...“
Diese Sätze mögen damit eine Fälschung sein, was Figl aber in Worte fasste, war traurige Realität. Österreich lag in Trümmern. DieNotwarsogroß,dasshungernde Kinder zu Hunderten aus Wien und anderen Städten in Zügen in die Schweiz gebracht wurden. Sie wurden dort bei Familien untergebracht und über Monate
aufgepäppelt, bis sie wieder einigermaßen bei Kräften waren. Noch 1947 fuhren Dutzende solcher Züge, dann aber meist nach Belgien, wo man die „Butterkinder“aufnahm.
In der kollektiven Erinnerung Österreichs, genährt durch TVBilder voll von nach Italien rollenden VW-Käfern und gut besuchten Heurigenlokalen, scheint das Land quasi ruckfrei aus dem Krieg in die WirtschaftswunderJahre zu spazieren. Doch die ließen lange auf sich warten, fast ein Jahrzehnt, bis Aufschwung
Industriebetriebe
Kinder
Säugling in Wien starb an Unterernährung.
Leopold Figl (re.) und Mark W. Clark und erster Wohlstand wirklich für die Masse der Bevölkerung spürbar wurden.
Zur Jahreswende 1946/’47 im sogenannten „Hungerwinter“, einem der kältesten des 20. Jahrhunderts, sollte sich die Lage noch einmal dramatisch verschlimmern. 70 Prozent der Kinder galten als unterernährt, die Schulen blieben geschlossen, schlicht weil es keine Kohle gab, um sie zu heizen. In Wien etwa wanderten viele Bewohner durch den umliegenden Wienerwald, nur um dort Brennholz zu sammeln.
GESCHICHTE ZUM ANSCHAUEN Jeden Samstag im KURIER Viele entschieden sich sogar dafür, illegale Siedlungen zu errichten, weil man meinte, draußen in der Natur leichter überleben zu können als in der Stadt.
Noch zwei Jahre später, also 1949, hielt der Minister für Ernährung, Otto Sagmeister, eine feierliche Ansprache. Er teilte seinen Landsleuten mit, dass die von nun an jedem Österreicher per Lebensmittelmarken zugeteilte Kalorienmenge auf 2.100 angehoben werde. Nach heutigen Maßstäben ist das Unterernährung.
Mit Kalorien am Tag musste ein Normalverbraucher 1946 auskommen, ein Jahr später waren es gerade einmal 1.200. Trotz Hilfe der Alliierten hungerte die städtische Bevölkerung. Die Ernten waren auf ein Drittel des Vorkriegsniveaus geschrumpft. Viele Nahrungsmittel waren mit den ausgegebenen Lebensmittelmarken nicht erhältlich, sondern nur auf dem Schwarzmarkt zu oft hundertfach überhöhten Preisen. In Wiener Parks wurden Kartoffeln angebaut.
Schwarzmarkt-Razzia in Wien
Wiener Arsenal 1945 1
60
Prozent der Lebensmittel für die städtische Bevölkerung stammten 1946 aus Spenden. Symbol dieser Hilfe ist bis heute das CARE-Paket, organisiert von 22 privaten US-Hilfsorganisationen.
Million CARE-Pakete