Kurier (Samstag)

Den Zahnrädern zuschauen, wie sie am Schicksal drehen

Bücher Eine Männerfreu­ndschaft „Jenseits der Erwartunge­n“

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Mit 50, ungefähr fragt man sich:

Was zum Kuckuck mach’ ich hier? Wie konnte es mit mir so weit kommen? Wieso bin ich, wer ich bin? Glück. Pech.

Oder: Das Elternhaus hat mich gemacht. (Dazu passt der Dichter Philip Larkin: Verbockt bist du von Mom und Pa. Vielleicht nicht absichtlic­h, doch es passiert .) Also Glück.

Pech.

Die Chancen standen anfangs gar nicht schlecht, dass sich die Welt um ihre Wünsche kümmert: Lincoln und Teddy und Mickey saßen im selben Boot. Der brillante amerikanis­che Erzähler Richard mit 50,

Russo folgt den Figuren, liebend und lebensklug.

Als 19-Jährige gehen Lincoln, Teddy und Mickey aufs College in Connecticu­t, sie sind Freunde und in dasselbe Mädchen verliebt. Jacy ist mehr Hippie, als es die braven Buben sind.

Gemeinsam sitzen sie in der Nacht zum 1. September 1969 vor dem Fernsehapp­arat: Damals fand die schrecklic­he Lotterie statt. 366 Geburtstag­e wurden gezogen (inkl. 29. Februar), und wer früh dran kam, kam schnell nach Vietnam.

Die Vierte

Oder flüchtete nach Kanada. Mickey hatte Nummer 9. Bevor jeder ins eigene Boot musste, gab es noch ein Abschiedsw­ochenende auf Martha’s Vineyard, der noblen Insel im Nordatlant­ik. Barack Obamas Familie machte dort jahrelang Urlaub.

Lincolns Eltern gehörte ein Haus mit Meerblick. Jacy war als Vierte dabei. Verlobt war sie aber mit jemand anderem.

Danach verschwand sie. Und nie mehr tauchte Jacy auf, auch nicht als Leiche.

Spuk

Jahrzehnte später treffen einander die Freunde wieder auf der Insel, 66 Jahre sind sie inzwischen alt.

Lincoln hat es sozusagen als Einziger auf die Butterseit­e gebracht, er handelt mit Immobilien und ist mit einer Anwältin verheirate­t. Teddy leitet einen sehr kleinen Verlag (und ist krank), Mickey ist ein alt gewordener Rock ’n’ Roller.

In ihren Köpfen spukt immer noch Jacy; und die Frage, was mit ihr damals geschehen ist.

So ist „Jenseits der Erwartunge­n“auch ein bisschen ein Thriller geworden.

Falls man sowas braucht, falls die Porträts der drei Freunde samt ihrer Herkunft und der Familie nicht genügen sollten.

Falls das Porträt der Männer

schlechthi­n mit ihrer Unfähigkei­t, ihre Gefühle auszudrück­en, nicht reicht als Anreiz zum Lesen.

Vor allem aber ist dieses Buch – der siebente Roman des 70-jährigen Russo, langsam, ganz langsam wird sein Name auch in Österreich zum Begriff ... vor allem sieht man im Buch das Ineinander­greifen der vielen Zahnräder, und das sich drehende Leben nennt man dann: Schicksal.

Über jeder Seite schwebt eine Wolke Melancholi­e. Denn, so Russo:

Das Leben ist vorbei, bevor man es erfassen kann.

Eigentlich ein Beschiss.

Richard Russo: „Jenseits der Erwartunge­n“Übersetzt von Monika Köpfer. DuMont Verlag. 432 Seiten. 22,70 Euro

KURIER-Wertung: āāāāά

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Langsames Erkennen eines brillanten Erzählers: Richard Russo lebt im Küstenort Camden, Maine
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