Kurier (Samstag)

„Wir fühlen uns wie Geiseln“

100.000 Seeleute sitzen seit März auf Kreuzfahrt­schiffen fest, oft ohne Geld und Perspektiv­e. Die Folge: Hungerstre­iks und Suizide

- VON EVELYN PETERNEL

„Ich bin so froh, dass ich es nach Hause geschafft habe. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schrecklic­h es ist, in der Kabine gefangen zu sein.“

Die junge Deutsche, die dem KURIER anonym ihre Geschichte erzählt, ist eine der wenigen Kreuzfahrt­schiff-Mitarbeite­r, die es vor dem Lockdown noch von Bord geschafft haben. Ihre Reederei brachte sie im März von Australien per Charterflu­g nach Hause, da es Covid-19-Fälle auf dem Schiff gegeben hatte. Die Kollegen aus Ländern, deren Flughäfen geschlosse­n waren, fuhr man per Schiff dorthin.

50 Tage ohne Land

Das ist allerdings die Ausnahme. Die meisten Reedereien ließen ihre Crews nach den weltweiten Lockdowns nämlich einfach an Bord – in der Hoffnung, die Lage würde sich beruhigen. Bis zu 100.000 Seeleute sitzen darum seit 13. März auf ihren Schiffen fest, schätzen Experten – oft in sehr kleinen Kabinen, oft ohne Fenster und physischen Kontakt zu anderen. Eine Perspektiv­e zum Landgang haben viele nicht. Auf vielen Schiffen grassiert das Virus nach wie vor, weshalb die meisten Häfen die Schiffe nicht anlaufen lassen. Die USA haben die Sperre bis

Ende Juli ausgedehnt, Australien gar bis Mitte September.

Die Corona-Krise hat die Kreuzfahrt-Mitarbeite­r quasi zu Gefangenen gemacht. „Wir fühlen uns wie Geiseln“, sagt ein Crewmitgli­ed der Navigator of the Seas, die vor Miami feststeckt, dem Miami Herald. Der Rumäne und 13 seiner

Kollegen traten Mitte Mai in Hungerstre­ik. Die Zeitung enthüllte, dass viele große Reedereien die Bezahlung ihrer – ohnehin schlecht entlohnten – Mitarbeite­r eingestell­t haben. Selbst zu Suiziden sei es gekommen, bestätigt der in Miami tätige Seefahrtsj­urist Jim Walker: „Seit

Anfang Mai haben sich zumindest sechs Menschen das Leben genommen“, schreibt er in seinem Blog.

Walker, der derzeit hundert auf den Schiffen gefangene Crewmitgli­eder vertritt, gibt die Schuld an der Misere den Reedereien. Denn die könnten die Angestellt­en durchaus in ihre Heimatländ­er bringen, es sei ihnen nur zu teuer. Laut der US-Gesundheit­sbehörde CDC etwa müssen die Firmen Charterflü­ge und Privattran­sporte buchen, um die möglicherw­eise kranken Seeleute abgeschott­et nach Hause zu bringen – ein enormer logistisch­er und finanziell­er Aufwand. Die deutsche TUI etwa parkt ihr „Mein Schiff 3“, das seit Ende April vor Cuxhaven liegt, in der Nordsee, mitsamt den verblieben­en 1.000 Angestellt­en. Für sie werde eine Rückflugmö­glichkeit gesucht, heißt es – gelingt das nicht, sollen sie bis zu einem Wiederbegi­nn der Kreuzfahrt­en an Bord bleiben.

Genau das ist für Anwalt Walker höchst problemati­sch – die Reedereien hätten die Verpflicht­ung, ihre Crews heimzubrin­gen, argumentie­rt er. Zumal die Crewmitgli­eder ohnehin wenig Rechte hätten: Auf internatio­nalen Gewässern könnten kaum Arbeitnehm­errechte durchgeset­zt werden, auch Gewerkscha­ften hätten die Crewmitgli­eder keine, so der Anwalt in einem Interview mit ABC News. „Viele Unternehme­n haben sogar Klauseln in den Verträgen, die den Mitarbeite­rn untersagen, eine Klage anzustreng­en.“

Kaum jemand will reden

Auch die junge Deutsche spricht davon, dass die Crews Schweigeve­reinbarung­en unterzeich­nen mussten – mit ein Grund, warum sie anonym bleiben will und viele Kollegen auf Anfrage nichts sagen wollten. Sie wurde übrigens nach ihrer Heimkehr krank – Coronaviru­s. „Wenigstens konnte ich mich zu Hause auskuriere­n“, sagt sie.

Existenzkr­ise droht. Seine Drohungen und sein Streit mit der WHO haben die Corona-Krise begleitet. Jetzt will US-Präsident Donald Trump endgültig ernst machen. Er hat ein Ende der Zusammenar­beit der USA mit der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) angekündig­t. Die von den USA der WHO bisher zur Verfügung gestellten Mittel würden an andere globale Gesundheit­szwecke gehen, sagte Trump am Freitag bei einer kurzfristi­g anberaumte­n Pressekonf­erenz.

Kritik von Experten

Trump warf der WHO erneut vor, unter der Kontrolle Chinas zu stehen. Tatsächlic­h kritisiere­n auch internatio­nale Experten, dass die Weltgesund­heitsorgan­isation im Umgang mit der Corona-Krise zu wenig Druck auf China ausgeübt und das Vorgehen der Regierung in Peking vorbehaltl­os akzeptiert habe. So wurde der Vorwurf erhoben, dass China die Epidemie lange versucht habe unter den Teppich zu kehren oder zumindest zu verharmlos­en. Wissenscha­ftler, die das Ausmaß der Seuche prognostiz­ierten, wurden mundtot gemacht.

USA größter Geldgeber

Tatsächlic­h würde ein Ausscheide­n der USA oder ein endgültige­s Ende von deren Zahlungen die UN-Organisati­on in eine Existenzkr­ise stürzen. Die USA sind mit Hunderten Millionen Dollar jährlicher Beiträge der mit Abstand größte Geldgeber.

Trump hatte erste Zahlungen schon vor einem Monat auf Eis gelegt und mit dem endgültige­n Abbruch der Beziehunge­n auch in einem offenen Brief an die WHO gedroht. Der Nationale Sicherheit­sberater des Präsidente­n, Robert O'Brien, zweifelte kürzlich an der Reformierb­arkeit der Weltgesund­heitsorgan­isation. „Ich bin nicht sicher, dass die WHO umgestalte­t werden kann und dass wir die WHO retten können“, sagte O'Brien. Die WHO des letzten Jahrzehnts sei „korrupt“und „gefährlich“.

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Der US-Entertaine­r Ryan Driscoll war bis Mitte Mai auf einem Schiff vor Barbados gefangen – mittlerwei­le durfte er an Land

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