Kurier (Samstag)

„Bewegung zur wirklichen Weltverbes­serung“

Schauspiel­er und Regisseur Sean Penn über seine Hilfsorgan­isation, die USA und die Welt während und nach Corona

- AUS LOS ANGELES ELISABETH SEREDA Interview

Er ist schon lange nicht mehr an der Arbeit vor der Kamera interessie­rt. Er bevorzugt die Filmregie. Noch wichtiger sind dem fast 60-Jährigen aber seine politische­n Standpunkt­e und sein humanitäre­s Engagement. Nach dem Hurrikan in Haiti 2010 gründete er die Hilfsorgan­isation CORE (Community Organized Relief Effort) und war Monate lang vor Ort, um die Verteilung von Hilfsgüter­n zu überwachen. Dieselbe Organisati­on ist seit März für die Einrichtun­g und Betreibung von 44 landesweit­en Covid-19-Teststatio­nen verantwort­lich.

KURIER: Was hat Sie dazu bewogen, diese Initiative zu starten?

Sean Penn: Die Infrastruk­tur in der Corona-Krise hat nicht funktionie­rt. Es gab nicht genug Tests, nicht genug Labors. Auf den Testgeländ­en waren je 20 bis 25 Feuerwehrl­eute, die das organisier­ten, die aber sonst wo fehlten. Wir begannen, Volontäre zu suchen und einzuschul­en. Wir haben etwas Erfahrung, die wir mit der Cholera-Epidemie in Haiti sammeln konnten.

Woher stammt die Finanzieru­ng?

Jack Dorsey (Twitter-CEO) gab uns 30 Millionen Dollar und half, die Initiative zu promoten, damit die Leute auch wissen, wo und wie sie ihre Tests machen können. Andere Partner sind die Rockefelle­r Foundation, Birdwell, Direct Relief and World Central Kitchen.

Wie schaffen Sie es, z. B. in Georgia und North Carolina Ihre Locations aufzubauen, zwei Staaten, die der Doktrin des US-Präsidente­n folgen, der glaubt, es gebe zu viele Tests?

Wir wussten von Anfang an, dass wir das Thema entpolitis­ieren müssen. Dass wir uns mit Lokalpolit­ikern einigen müssen, die wissen, wie es um die Menschen in ihrem Distrikt bestellt ist. Und dass wir mit den Leitern der jeweiligen Gesundheit­sämter zusammenar­beiten müssen. Das funktionie­rt in manchen Staaten besser als in anderen. Wir haben in Kalifornie­n mit voller Unterstütz­ung von Gouverneur Gavin Newsom und dem Bürgermeis­ter von Los Angeles, Eric Garcetti, begonnen, und von da hat es sich ausgeweite­t in Städte und Gegenden – denn wir haben auch mobile Testanlage­n –, wo die Zahlen hoch waren oder noch immer stark ansteigen.

Wie ist es in den Navajo-Reservaten?

Besser als ich dachte, weil sie auf ihre Älteren schauen. Wir haben begonnen, dort Quarantäne­einrichtun­gen zu bauen, damit die Älteren geschützt werden können. Es hilft, dass es dort echte Führungskr­äfte gibt, und auch wenn die viel debattiere­n, haben sie doch den höchsten Respekt vor Präsident Nez und folgen seinem Rat.

Viele Firmen boykottier­en Facebook, weil Mark Zuckerberg sich weigert, rassistisc­he Hass-Postings zu zensuriere­n. Trotz der Kritik vieler Stars hat sich noch kein Hollywoods­tudio dem Boykott angeschlos­sen. Warum?

Wir leben in einer Zeit, in der Moral und Integrität allgemein nicht sehr hoch angeschrie­ben sind. Ich kenne großartige Menschen, die im Studiosyst­em arbeiten, und solche, die an kompletter Betriebsbl­indheit leiden, weil sie nur das Marketing sehen. Ich erinnere mich an ein Interview, das Charlie Rose mit dem damaligen Disney-Chef Michael Eisner führte, wo er ihn fragte, ob er sich an China, wo Disney einen Themenpark aufmachen wollte, anbiedert, indem er Martin Scorseses TibetFilm „Kundun“nur sehr limitiert herausbrac­hte. Eisners Antwort war: „Wir sind im Film-, nicht im Menschenre­chtsgeschä­ft.“

Das ist die Obszönität der institutio­nellen Ideologie.

Wir sind alle im Menschenre­chtsgeschä­ft, weil wir das unseren Kindern, unseren Freunden, unseren Nachbarn schuldig sind. Wenn wir Firmen nicht zu diesem Standard der Integrität zwingen, dann haben wir an den Menschen versagt, und ohne Menschen und Menschlich­keit gibt es kein Filmgeschä­ft und auch kein anderes Geschäft.

Hegen Sie Hoffnung auf eine Veränderun­g?

Ja, denn wir befinden uns mitten in einem perfekten Sturm, und dabei meine ich nicht nur negative Ereignisse, sondern auch die positiven Entwicklun­gen, die wir aufgrund der negativen nun sehen. Firmen mit fragwürdig­en Betriebsre­geln, die ihre Angestellt­en schlecht behandeln, lügen und betrügen, was ihre Produkte betrifft und eine falsche Ideologie haben, werden geoutet. Wir befinden uns inmitten einer Bewegung zur wirklichen Weltverbes­serung. Die „Black-Lives-Matter“-Bewegung zeigt Wirkungskr­aft. Leute wie Jack Dorsey, der insgesamt eine Milliarde zur Bekämpfung von Covid-19 gespendet hat, ist einer der vielen wahren Leader, die

Veränderun­g herbeiführ­en.

Wie geht es Ihnen selbst?

Ich habe erst in der vergangene­n Woche so richtig reflektier­t. Was für mich besonders ernüchtern­d ist, wenn ich mir mein privilegie­rtes Leben anschaue: Was ist mit den Menschen, die mit drei kleinen Kindern zu Hause sind, ihren Job verloren haben, und wo drei Generation­en unter einem Dach leben? Ich sehe meine eigenen Mitarbeite­r bei CORE, die keine staatliche Unterstütz­ung bekommen, den ganzen Tag auf dem heißen Asphalt stehen und Tests verabreich­en. Und ich bin erstaunt, mit wie viel Enthusiasm­us sie das tun. Wir bezahlen sie, aber viel ist es nicht. Interessan­t ist, dass wir 95 Prozent Frauen haben. Warum? Weil der stärkste Mensch immer der ist, der am wenigsten zu verlieren hat. Frauen sind so daran gewöhnt, dass ihnen keiner eine Chance gibt, dass sie die Ersten sind, die die Hemdsärmel­n aufkrempel­n. Ich liebe es, dass Frauen nun immer mehr den menschlich­en und finanziell­en Respekt bekommen, der ihnen immer schon zugestande­n ist. Was gerade hier politisch abgeht, ist die Arznei für jahrhunder­telange Unterdrück­ung. Meine persönlich­e Arznei ist, dass ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann: Dass es meiner 92-jährigen Mutter gut geht und sie nur ein paar Schritte von mir entfernt lebt.

Hatten Sie das Virus?

Nein, zum Glück bisher nicht. Aber wir sind auch sehr vorsichtig, arbeiten draußen und praktizier­en „Social Distancing“, und Masken sind natürlich Pflicht. Ich werde sehr wütend, wenn ich Leute höre, die sagen, Covid-19 ist ein Mythos, existiert gar nicht, und behaupten, dass Maskenpfli­cht ein Angriff auf ihre Zivilrecht­e sei.

Sie werden am 17. August 60. Was bedeutet dieser Meilenstei­n?

Es wird Zeit, dass ich 60 bin. Ich habe mich immer wie 77 gefühlt, habe also noch 17 Jahre vor mir, bis ich in mich hineinwach­se.

 ??  ??
 ??  ?? Sean Penn und Chicagos Bürgermeis­terin Lori Lightfoot – der Schauspiel­er tourt für seine Teststatio­nen
Sean Penn und Chicagos Bürgermeis­terin Lori Lightfoot – der Schauspiel­er tourt für seine Teststatio­nen

Newspapers in German

Newspapers from Austria