„Bewegung zur wirklichen Weltverbesserung“
Schauspieler und Regisseur Sean Penn über seine Hilfsorganisation, die USA und die Welt während und nach Corona
Er ist schon lange nicht mehr an der Arbeit vor der Kamera interessiert. Er bevorzugt die Filmregie. Noch wichtiger sind dem fast 60-Jährigen aber seine politischen Standpunkte und sein humanitäres Engagement. Nach dem Hurrikan in Haiti 2010 gründete er die Hilfsorganisation CORE (Community Organized Relief Effort) und war Monate lang vor Ort, um die Verteilung von Hilfsgütern zu überwachen. Dieselbe Organisation ist seit März für die Einrichtung und Betreibung von 44 landesweiten Covid-19-Teststationen verantwortlich.
KURIER: Was hat Sie dazu bewogen, diese Initiative zu starten?
Sean Penn: Die Infrastruktur in der Corona-Krise hat nicht funktioniert. Es gab nicht genug Tests, nicht genug Labors. Auf den Testgeländen waren je 20 bis 25 Feuerwehrleute, die das organisierten, die aber sonst wo fehlten. Wir begannen, Volontäre zu suchen und einzuschulen. Wir haben etwas Erfahrung, die wir mit der Cholera-Epidemie in Haiti sammeln konnten.
Woher stammt die Finanzierung?
Jack Dorsey (Twitter-CEO) gab uns 30 Millionen Dollar und half, die Initiative zu promoten, damit die Leute auch wissen, wo und wie sie ihre Tests machen können. Andere Partner sind die Rockefeller Foundation, Birdwell, Direct Relief and World Central Kitchen.
Wie schaffen Sie es, z. B. in Georgia und North Carolina Ihre Locations aufzubauen, zwei Staaten, die der Doktrin des US-Präsidenten folgen, der glaubt, es gebe zu viele Tests?
Wir wussten von Anfang an, dass wir das Thema entpolitisieren müssen. Dass wir uns mit Lokalpolitikern einigen müssen, die wissen, wie es um die Menschen in ihrem Distrikt bestellt ist. Und dass wir mit den Leitern der jeweiligen Gesundheitsämter zusammenarbeiten müssen. Das funktioniert in manchen Staaten besser als in anderen. Wir haben in Kalifornien mit voller Unterstützung von Gouverneur Gavin Newsom und dem Bürgermeister von Los Angeles, Eric Garcetti, begonnen, und von da hat es sich ausgeweitet in Städte und Gegenden – denn wir haben auch mobile Testanlagen –, wo die Zahlen hoch waren oder noch immer stark ansteigen.
Wie ist es in den Navajo-Reservaten?
Besser als ich dachte, weil sie auf ihre Älteren schauen. Wir haben begonnen, dort Quarantäneeinrichtungen zu bauen, damit die Älteren geschützt werden können. Es hilft, dass es dort echte Führungskräfte gibt, und auch wenn die viel debattieren, haben sie doch den höchsten Respekt vor Präsident Nez und folgen seinem Rat.
Viele Firmen boykottieren Facebook, weil Mark Zuckerberg sich weigert, rassistische Hass-Postings zu zensurieren. Trotz der Kritik vieler Stars hat sich noch kein Hollywoodstudio dem Boykott angeschlossen. Warum?
Wir leben in einer Zeit, in der Moral und Integrität allgemein nicht sehr hoch angeschrieben sind. Ich kenne großartige Menschen, die im Studiosystem arbeiten, und solche, die an kompletter Betriebsblindheit leiden, weil sie nur das Marketing sehen. Ich erinnere mich an ein Interview, das Charlie Rose mit dem damaligen Disney-Chef Michael Eisner führte, wo er ihn fragte, ob er sich an China, wo Disney einen Themenpark aufmachen wollte, anbiedert, indem er Martin Scorseses TibetFilm „Kundun“nur sehr limitiert herausbrachte. Eisners Antwort war: „Wir sind im Film-, nicht im Menschenrechtsgeschäft.“
Das ist die Obszönität der institutionellen Ideologie.
Wir sind alle im Menschenrechtsgeschäft, weil wir das unseren Kindern, unseren Freunden, unseren Nachbarn schuldig sind. Wenn wir Firmen nicht zu diesem Standard der Integrität zwingen, dann haben wir an den Menschen versagt, und ohne Menschen und Menschlichkeit gibt es kein Filmgeschäft und auch kein anderes Geschäft.
Hegen Sie Hoffnung auf eine Veränderung?
Ja, denn wir befinden uns mitten in einem perfekten Sturm, und dabei meine ich nicht nur negative Ereignisse, sondern auch die positiven Entwicklungen, die wir aufgrund der negativen nun sehen. Firmen mit fragwürdigen Betriebsregeln, die ihre Angestellten schlecht behandeln, lügen und betrügen, was ihre Produkte betrifft und eine falsche Ideologie haben, werden geoutet. Wir befinden uns inmitten einer Bewegung zur wirklichen Weltverbesserung. Die „Black-Lives-Matter“-Bewegung zeigt Wirkungskraft. Leute wie Jack Dorsey, der insgesamt eine Milliarde zur Bekämpfung von Covid-19 gespendet hat, ist einer der vielen wahren Leader, die
Veränderung herbeiführen.
Wie geht es Ihnen selbst?
Ich habe erst in der vergangenen Woche so richtig reflektiert. Was für mich besonders ernüchternd ist, wenn ich mir mein privilegiertes Leben anschaue: Was ist mit den Menschen, die mit drei kleinen Kindern zu Hause sind, ihren Job verloren haben, und wo drei Generationen unter einem Dach leben? Ich sehe meine eigenen Mitarbeiter bei CORE, die keine staatliche Unterstützung bekommen, den ganzen Tag auf dem heißen Asphalt stehen und Tests verabreichen. Und ich bin erstaunt, mit wie viel Enthusiasmus sie das tun. Wir bezahlen sie, aber viel ist es nicht. Interessant ist, dass wir 95 Prozent Frauen haben. Warum? Weil der stärkste Mensch immer der ist, der am wenigsten zu verlieren hat. Frauen sind so daran gewöhnt, dass ihnen keiner eine Chance gibt, dass sie die Ersten sind, die die Hemdsärmeln aufkrempeln. Ich liebe es, dass Frauen nun immer mehr den menschlichen und finanziellen Respekt bekommen, der ihnen immer schon zugestanden ist. Was gerade hier politisch abgeht, ist die Arznei für jahrhundertelange Unterdrückung. Meine persönliche Arznei ist, dass ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann: Dass es meiner 92-jährigen Mutter gut geht und sie nur ein paar Schritte von mir entfernt lebt.
Hatten Sie das Virus?
Nein, zum Glück bisher nicht. Aber wir sind auch sehr vorsichtig, arbeiten draußen und praktizieren „Social Distancing“, und Masken sind natürlich Pflicht. Ich werde sehr wütend, wenn ich Leute höre, die sagen, Covid-19 ist ein Mythos, existiert gar nicht, und behaupten, dass Maskenpflicht ein Angriff auf ihre Zivilrechte sei.
Sie werden am 17. August 60. Was bedeutet dieser Meilenstein?
Es wird Zeit, dass ich 60 bin. Ich habe mich immer wie 77 gefühlt, habe also noch 17 Jahre vor mir, bis ich in mich hineinwachse.