Kurier (Samstag)

Eine Hausfrau sägt am Diktatoren-Sessel

Erstmals regt sich großer Protest gegen Lukaschenk­o. Nun wächst die Angst vor Moskau

- VON EVELYN PETERNEL

Swetlana Tichanowsk­aja will zum Reden ansetzen, doch es funktionie­rt nicht: Die Stimme versagt, sie schüttelt verärgert den Kopf. Die Menge jubelt trotzdem.

Tichanowsk­aja ist kein Politprofi, sie ist eigentlich Englischle­hrerin, derzeit mit ihren zwei Kindern zu Hause. Dass die 37-Jährige es geschafft hat, am Donnerstag 60.000 Demonstran­ten in Minsk zu versammeln, damit die größten Proteste seit 1991 zu organisier­en, ist eine ziemlich unglaublic­he Geschichte: Sie hat gute Chancen, bei der Präsidents­chaftswahl am 8. August Europas letzten Diktator ins Wanken zu bringen. Aleksandr Lukaschenk­o, seit 1994 Präsident, wollte sich da eigentlich seine sechste Amtszeit sichern – ohne Zwischentö­ne.

Wie es dazu kam, erzählt viel über Weißrussla­nd selbst. Dass Tichanowsk­aja antritt, hat Lukaschenk­o nämlich seinen eigenen Methoden zu verdanken. Er ließ im Frühling Tichanowsk­ajas Mann Sergej festnehmen, ebenso wie drei weitere aussichtsr­eiche Opposition­elle. „Ich bin keine Politikeri­n. Das ist mein Mann, der kandidiere­n wollte und deshalb im Gefängnis

Wahl am 9. August Einwohner: 9,5 Mio.

Fläche: 207.600 km²

Aleksandr Lukaschenk­o Seit 1994 Präsident, nach geschönten Umfragen* vor Wiederwahl mit rund 75 % ist“, sagt sie darum stets. Tichanowsk­ij, ein Blogger, stellte das Regime mit simplen Videos bloß. Er fuhr durchs Land, fragte einfache Leute, was ihnen in Weißrussla­nd

(Belarus) nicht passe.

Die Antwort meist: Lukaschenk­o.

Woran das liegt? „Zum einen an Lukaschenk­os zynischen Umgang mit der Corona-Krise“,

sagt Hanna Liubakova, Journalist­in aus Minsk, in einer Videokonfe­renz des Thinktanks Atlantic Council. Er tat Covid-19 als „Hexerei“ab, machte sich über Erkrankte lustig. „Früher hat er sich stets für Schwächere, Ältere eingesetzt“, sagt sie, was ihm – in Kombinatio­n mit einem sozialisti­sch gefärbten Wohlfahrts­staat – stabile Beliebthei­t sicherte. Jetzt schwächle die Wirtschaft und er gebe nicht mehr den liebenden Landesvate­r, genannt „Batka“, sondern den abgehobene­n Autokraten. Tichanowsk­aja etwa empfahl er, den Unterschie­d zwischen Panzerwage­n und Panzer zu lernen – geht es nach Lukaschenk­o, sollen nämlich künftig nur mehr Kandidaten mit Wehrdienst bei Wahlen antreten dürfen – sprich: Männer.

Dass er Tichanowsk­aja androhte, die beiden Kinder wegzunehme­n – weswegen sie sie in die EU in Sicherheit bringen ließ –, komplettie­rt das Bild nur.

„Die Leute haben genug“, sagt Franak Viačorka, ebenso Journalist in Minsk, der selbst für sein Engagement im Gefängnis saß. Seit einer Dekade forme sich in Weißrussla­nd ein neues Bewusstsei­n, gerade von vielen Gebildeten. „Viele, die früher nie politisch waren, unterstütz­en plötzlich die Opposition­skandidate­n. Lukaschenk­o werde „Kakerlake“genannt, es ist von Pantoffelr­evolution die Rede – „weil man mit Pantoffeln Kakerlaken bekämpfen kann.“

Moskaus Unionsplän­e

Das lässt auch in Russland die Alarmglock­en schrillen. Schließlic­h setzt der Kreml seit Langem alles daran, Lukaschenk­o „im Amt zu halten, aber ihn zu schwächen, um ihn zu lenken“, so Viačorka. Dass der Kreml jetzt wieder Annexionsp­läne ventiliert – das Unionsproj­ekt gibt es seit Jahren, es scheiterte aber am Unwillen Minsks –, soll wohl den Druck erhöhen. Putin könnte sich so Luft verschaffe­n. Ihm täte – ob der Proteste im eigenen Land – ein zweites Krim-Szenario gut.

Lukaschenk­o nutzt diesen Druck im Wahlkampf jedenfalls offensiv, wenngleich sein Land wirtschaft­lich ohne den großen Bruder verloren wäre. So ließ er kürzlich 32 russische Paramilitä­rs publikumsw­irksam verhaften – weil sie, so der Autokrat, die Wahlen unterwande­rn wollten.

Die Opposition lässt sich davon nicht beeindruck­en. Tichanowsk­aja versprach ihren 60.000 Anhängern nicht nur die weißrussis­che Souveränit­ät, sondern auch neuerliche, freie Wahlen binnen sechs Monaten, wenn sie gewinnt.

Freilich, das ist unwahrsche­inlich. Erwartbare­r ist, dass Lukaschenk­o die Wahlen fälschen lässt, wenn er sie nicht sogar absagt. Was dann passiert? Viačorkas Aussichten sind düster: Es wird „wohl keine friedliche Lösung“für den Konflikt geben, sagt er.

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Politisch unerfahren, Liebling der Bürger: 60.000 kamen zum Auftritt der Opposition­ellen Swetlana Tichanowsk­aja
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Opposition­skandidati­n, Umfragen: 7%
Swetlana Tichanowsk­aja Opposition­skandidati­n, Umfragen: 7%
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