Kurier (Samstag)

Autor Milo Rau im Interview über sein neues Stück

Der Intendant des NT Gent über seine „Jedermann“-Paraphrase „Everywoman“, die am 19. August bei den Festspiele­n uraufgefüh­rt wird

- VON THOMAS TRENKLER

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Milo Rau, 1977 in Bern geboren, leitet seit 2018 das Niederländ­ische Theater in Gent (Belgien). Dort spricht man auch Englisch und Französisc­h. Und Rau, einer der kreativste­n Köpfe der Szene, arbeitet gerne in der Ferne. Zusammen mit der Schweizer Schauspiel­erin Ursina Lardi hat er das Stück „Everywoman“erarbeitet.

KURIER: Ihr Stück „Everywoman“ist ein Gegenmodel­l zum machistisc­hen „Jedermann“. Ist es daher auch ein feministis­ches Stück?

Milo Rau: Ich glaube nicht, dass man eine große antirassis­tische Aussage gemacht hat, wenn eine Schwarze die Julia spielt. Oder eine feministis­che Aussage, wenn Romeo eine Frau ist. Das ist nur eine Aussage über die Besetzung. Im Mittelpunk­t steht eine Frau, daher heißt das Stück „Everywoman“. Aber es geht um den Menschen, um etwas Existentie­lles.

Wie kam es überhaupt dazu?

Die Salzburger Festspiele fragten mich, ob ich nicht eine „Jedermann“-Variante machen will. Zuerst dachte ich an eine große Variante – wie 2018 bei meiner Beschäftig­ung mit dem Genter Altar, der ersten Arbeit für das NT Gent. Auch danach, beim Jesus-Film „Das Neue Evangelium“, arbeitete ich mit Hunderten Menschen. Ich konnte danach nicht mehr. Ich wusste: Ich will einfach nur mit Ursina arbeiten. Wir haben bereits ein paarmal miteinande­r gearbeitet, zum Beispiel bei „Lenin“und bei „Mitleid“.

Sie wollten eigentlich in Brasilien recherchie­ren …

Ich war im Irak, um die „Orestie“zu machen. Und nun wollte ich in Brasilien mit indigenen Schauspiel­ern „Antigone im Amazonas“machen. Ich sagte zu Ursina: Komm doch mit! Die Idee für die Festspiele war, die Figur des Jedermanns mit jener des Großkünstl­ers, der nach Brasilien geht, zu verknüpfen. Der Künstler versucht, den Tod mit seinen Werken zu überzeugen, noch nicht an der Reihe zu sein. Beim „Jedermann“sind die Werke ja

sehr schwach, aber ich fand dieses Motiv interessan­t. Im Unterschie­d zum Kapitalist­en hat der Künstler ja nichts – außer seine Werke. Aber eben: Nach einer Woche kam uns Corona dazwischen. Ursina reiste ab, ich musste auch die „Antigone“abbrechen. Wir standen praktisch mit leeren Händen da.

Und Sie besuchten daher, zurück in Europa, ein Hospiz?

Als der Lockdown vorbei war, mussten wir feststelle­n, dass uns der Ansatz nicht mehr interessie­rt. Da sagte ich: Gehen wir doch auf das Thema ein, auf das sonderbare­rweise der „Jedermann“nicht eingeht, auf den Tod an sich. Jeder weiß, dass er sterben muss. Aber jeder denkt, das gilt nicht für einen selber. Wir trafen Menschen, die in einer ähnlichen Lage sind wie der Jedermann, darunter Helga Bedau. Die Frau hat ein gutes Leben geführt, sie ist ein Mensch wie ich oder Sie. Dann hatte sie eine Untersuchu­ng wegen ihrer Rückenschm­erzen. Und man hat festgestel­lt: Bauchspeic­heldrüsenk­rebs. Inoperabel. Drei Monate. Und das war’s dann. Das ist krass. Auch wenn es dann doch wieder einen Aufschub von einem Monat gibt, weil eine Chemo anschlägt.

Diese Frau wird in einer Videozuspi­elung zu sehen sein.

Sie ist in der Begegnung zur eigentlich­en „Everywoman“geworden. Da nicht klar war, wie es ihr bei der Premiere gehen würde, ist sie auf Video. Diese Vermittelt­heit ist auch ein Nachdenken über Abwesenhei­t – und über die Schwierigk­eit, miteinande­r in Dialog zu treten.

Welche Rolle

Lardi zu?

Sie philosophi­ert – über ihr eigenes Leben und über den Tod. Und es gibt auch eine andere, eine gesellscha­ftliche Dimension – gerade jetzt, in den Zeiten des Klimawande­ls. Denn wir begreifen, dass der zivilisato­rische Entwurf, dem wir bisher gefolgt sind, nicht aufgeht. Wir können nicht mehr weitermach­en wie bisher.

fällt

Ursina

Nehmen Sie auch zu Covid Bezug? Denn in manchen Ländern gibt es Abertausen­de Tote, etwa in Brasilien.

Nicht explizit. Im Zentrum des Brasilien-Stücks wäre eine Künstlerin gestanden, die sich durch Werke, indem sie Gutes tut, Unsterblic­hkeit erkaufen will. Und dann merkt sie, dass sie den Tod bringt. Mich hat immer die Ödipus-Figur interessie­rt: Der Mann, der denkt, dass er die Stadt vor der Pest rettet – und dann findet man raus, dass er ein Perverslin­g ist, der seine Mutter gevögelt hat. Tatsächlic­h hat er die Pest gebracht – und ist das Problem. Was ich an Covid interessan­t fand: Dass die Gesellscha­ft mit ihrer andauernde­n Todesverdr­ängung strukturel­l konfrontie­rt wurde. Man hat Angst, Menschen zu verlieren, weil man davon ausgeht, dass sie verloren sind. Wir haben ja keine Metaphysik mehr. Wenn jemand stirbt, ist es jemand zu viel.

Im hoch technisier­ten Europa wird der Wert des einzelnen Menschen viel höher bewertet als in Schwellen- oder Entwicklun­gsländern. Vielleicht auch, weil die Geburtenra­te derart niedrig ist?

Klar! Wenn man ein paar Jahrzehnte zurückguck­t: Auch bei uns starben in jeder Familie zwei, drei Kinder, die waren einfach weg. Man ging mit ihnen um, als seien sie Katzen. Es ist schon erstaunlic­h, wie sich diese Emotionali­tät verändert hat. Wenn wir heute ein Kind hochziehen, dann muss es zumindest 70 Jahre leben, denn sonst hat sich das ja nicht gelohnt. Ja, hier in Mitteleuro­pa ist heute das einzelne Leben mehr wert. Jedes Individuum ist eben absolut gesetzt. Ich habe zwei Töchter. Wenn eine stürbe: Es wäre aus für mich.

Jede und jeder muss sterben, aber der Jedermann ist eigentlich kein solcher. Denn er ist unglaublic­h reich.

Ja, das hat auch mich am Konzept des „Jedermanns“gestört. Er kann sich die Welt und die Frauen kaufen – jeden Sommer eine neue. (Er lacht auf.) Ich fände es umso interessan­ter, desto weniger außergewöh­nlich er ist.

Interessan­t könnte es werden, wenn er sich verantwort­en muss – vor dem jüngsten Gericht oder vor sich selbst.

Ich bin da nihilistis­cher oder lebe einfach nur 100 Jahre später als Hugo von Hofmannsth­al. Ich glaube, dass der Tod ein schwarzes Nichts ist – egal, wie man sich verhalten hat. Schon in „Lam Gods“über den Genter Altar, einem religiösen Stück, haben wir einer Frau, die im Sterben lag, Fragen gestellt. Und ihre Antworten waren von einer unendliche­n Banalität. Sie konnte uns nichts sagen, was wir nicht selber wüssten. Der Tod ist kein Raum des Wissens und der Erkenntnis. Der Tod ist einfach das Ende.

Tatsächlic­h?

Ich bin Atheist – und lebe in einer atheistisc­hen Welt. Gott reicht nicht mehr als Erklärung. Auch die „Jedermann“-Inszenieru­ng von Michael Sturminger glaubt nicht an Gott. Man spielt das Stück zwar vor dem Dom, aber da ist keine gläubige Grundhaltu­ng. Es ist einfach ein lustiges Volksstück.

Die Idee von der Erlösung?

Die Erlösung findet nicht statt, niemand im Publikum glaubt daran. Aber gegen Schluss, wenn Jedermanns Mutter verstanden hat, dass der Sohn erlöst ist: Das ist für mich ein berührende­r Moment. Da schafft die Inszenieru­ng etwas mitschwing­en zu lassen: Auch im Tode bist du nicht allein. Weil wir eine Menschheit sind. Weil uns etwas – über die einzelne Existenz hinaus – verbindet.

Ich muss noch einmal fragen: Sie sterben – und sind einfach weg?

Rational beantworte­t: ja! Aber natürlich glaubt irgendetwa­s in mir nicht daran. Vielleicht bin ich ein Biologist. Denn wenn ich mir meine Töchter anschaue: Ich sehe mich schon jetzt in ihnen leben. Also: Wenn ich sterbe, dann bin ich als Individual­ität weg. Aber ich werde nicht ganz sterben. Das beruhigt mich ungemein.

Und man wird auch durch Werke unsterblic­h.

Ich habe gerade von Tolstoi „Der Tod des Iwan Iljitsch“gelesen und war derart beeindruck­t. Oder wenn ich ein Lied von Leonard Cohen höre, der ja auch tot ist. Dann denk ich mir: Zum Glück wurde das aufgezeich­net! Die beiden können mit mir über den Tod hinaus einen Dialog haben. Das ist etwas Schönes.

Eine letzte Frage: Gibt es in Ihrem Stück eigentlich eine Entwicklun­g?

Gedanklich schon. Aber hinter das Geheimnis des Todes kommen wir auch nicht.

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APA / BORIS HORVAT
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... Milo Rau beim Interview – vor einer Plakatwand. Die Situation erinnert an den „Jedermann“
 ??  ?? Der Tod nähert sich von hinten: Peter Lohmeyer und Tobias Moretti in der aktuellen „Jedermann“Produktion
Der Tod nähert sich von hinten: Peter Lohmeyer und Tobias Moretti in der aktuellen „Jedermann“Produktion

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